Der doppelte Lott

Folge: 615 | 20. November 2005 | Sender: WDR | Regie: Manfred Stelzer
Bild: WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:


Grenzwertig. 

Dass beim Tatort mit Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) laut gelacht werden darf, ist zwar seit dem überragenden Erstling Der dunkle Fleck gute Tradition – doch ein solch üppiges und zugleich gelungenes Satire-Feuerwerk, wie es das eingespielte Autorenduo Stefan Cantz und Jan Hinter (Summ, summ, summ) in Der doppelte Lott abbrennt, sucht beim Blick auf die bis dato ausgestrahlten Folgen aus Westfalen seinesgleichen. 

Der achte gemeinsame Einsatz der beiden ungleichen Ermittler ist so albern, zugleich aber so lustig wie zum damaligen Zeitpunkt kein zweiter – klamauklastige Krimis wie Das Wunder von Wolbeck oder Erkläre Chimäre folgen erst viele Jahre später. 

Regisseur Manfred Stelzer (Spargelzeit) meistert die oft schmale Gratwanderung zwischen Satire, wortwitzigen Zoten und klassischer Tatort-Unterhaltung aber traumwandlerisch souverän. Mit einer Ausnahme: Der golfende Boerne, der Thiels Auto demoliert und in den Vorgärten des pathologischen Instituts zum Einlochen kurzerhand einen Fahnenmast aus der Verankerung hebt, ist selbst für einen Tatort aus Münster zu viel des Guten. Hier verkommt Der doppelte Lott für einen kurzen Moment zur Klamotte, doch Stelzer findet schnell zurück in die Spur. 

Ansonsten reiht sich im 615. Tatort nämlich eine denkwürdige Szene an die nächste – beispielhaft dafür sei Boernes komischer, von genervtem Thielschen Augenrollen begleiteter Monolog zitiert.


BOERNE: 
Ich bin natürlich gerne bereit, Ihnen für diese MFG die nötige BKB zu leisten. Ich wette, Sie haben keine Ahnung, was das ist, he? Ah, Thiel, man merkt so deutlich, dass Sie nie studiert haben. Mitfahrgelegenheit. Benzinkostenbeteiligung. Sie haben nie in einer WG gewohnt, nicht? Ich schon. Nicht, dass ich es damals nötig gehabt hätte, das Ganze war mehr ein Experiment. Ein sozial-psychologisches Versuchsmodell.


Die stärkste Szene des Films bleibt aber eine unerwartete Begegnung in der Leichenhalle – doch nicht etwa in der von Boerne und Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch). Einmal mehr ist Boerne nämlich persönlich in den Mordfall involviert und schleicht sich daher heimlich in die Kellerräume seines geschätzten Kölner Kollegen Dr. Joseph "Rottweiler" Roth (Joe Bausch). 

Der Roth? Ganz genau! 

Auch die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) sitzen bei Boernes unangekündigter Stippvisite verdattert im Nebenzimmer und trauen ihren Augen kaum. Diese kurze Begegnung der WDR-Ermittler zählt zu den spaßigsten Szenen der Tatort-Geschichte und ist auch in ihrer Länge perfekt konzipiert: Die wenigen, verdutzten Worte, die Ballauf und Schenk bei ihrem selbstironischen Cameo-Auftritt von sich geben, reichen vollkommen aus, um die Pointe genüsslich auszuspielen. Die Show gehört ansonsten Boerne. 

Auch Thiel hat einen großen Auftritt: Er darf in der Kneipe der Eltern von Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) zum ersten Mal im Tatort eine Frau küssen – die deutlich jüngere Larissa (Chulpan Khamatova). Warum diese es auf den rechtsgerichteten, titelgebenden Politiker Frieder Lott (Alexander Held, Mord in der ersten Liga), das offensichtliche Tatort-Pendant zu Ronald Schill, abgesehen hat, klärt sich angenehm spät – nur eine von vielen Stärken dieser herausragenden Tatort-Folge aus Münster, bei der das Publikum mit einem köstlichen Radarfallen-Foto in den Abspann entlassen wird. 

Eine ganz ähnliche Szene gibt es viele Jahre später in Schwanensee – nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass sich der Tatort mit Thiel und Boerne nach großartigen Folgen wie Der doppelte Lott noch nennenswert weiterentwickelt hat.

Bewertung: 9/10

Rache-Engel

Folge: 614 | 13. November 2005 | Sender: SR | Regie: Robert Sigl
Bild: SR/Manuela Meyer

So war der Tatort:


Um einen der Schlüsseldialoge von Rache-Engel aufzugreifen: erlösend. 

Vor allem für Hauptkommissar und Radfahrer Max Palu (Jochen Senf) selbst – schließlich ist er schon lange nicht mehr der Genussmensch, der bei seinem Tatort-Debüt im Jahr 1988 in Salü Palu noch in aller Seelenruhe über Wochenmärkte schlenderte und mit Hingabe nach Baguette und Thymian Ausschau hielt, statt sich um feste Bürozeiten zu scheren. 

2005 trinkt der Bonvivant von einst den Rotwein direkt aus der Pulle, kotzt sich auf der Terrasse seiner Partnerin über seinen Alltag aus und stellt verbittert fest: "Ich dümpel doch nur noch vor mich hin." 

Das ist verdammt wahr – und daher ist Palus 18. und letzter Fall nicht nur für den Hauptkommissar selbst, sondern auch für viele Fernsehzuschauer die erhoffte Erlösung. Sonderlich beliebt war Palu beim Publikum nie, im Gegenteil, große Teile der Zuschauer mochten den kauzigen Querkopf nicht – doch konnte man dem Saarländischen Rundfunk trotz des harschen Gegenwinds nie vorwerfen, einen massenkompatiblen Sympathieträger auf Verbrecherjagd im Benelux-Grenzgebiet zu schicken. 

Palus Abgang, bei dem er seinen Kollegen Stefan Deininger (Gregor Weber), der mit Franz Kappl (Maximilian Brücker) zukünftig einen neuen Partner zur Seite gestellt bekommt, einfach stehen lässt, spricht auch in dieser Hinsicht Bände.


PALU: 
Das war's, Stefan. Kauf dir mal 'nen Anzug.


Der 614. Tatort markiert den Schlusspunkt einer Ära, die fast achtzehn Jahre andauerte. Damit ist Palu bis heute einer der langjährigsten Tatort-Ermittler. Als Krimi funktioniert Rache-Engel aber weit weniger gut, als es Hauptdarsteller Senf, der gemeinsam mit Andreas Föhr und Thomas Letocha auch das Drehbuch schrieb, lieb sein dürfte: Sieht man vom fulminanten Auftakt in der mondänen Villa des Opfers einmal ab, wirkt die Inszenierung von Regisseur Robert Sigl (Zielscheibe) zu überhastet, oft hektisch, fast ziellos. 

Der Kreis der Verdächtigen ist um mindestens eine Person zu groß, die Schnitte sind abrupt gesetzt und die Handlung springt permanent zwischen verschiedenen Schauplätzen hin und her. Das macht Rache-Engel unnötig anstrengend und selten zum Vergnügen. Einzig die Mordsequenz, in der geschickt mit unterschiedlichen Kameraperspektiven gespielt, das Geschehen aus Sicht mehrerer Personen geschildert und den Zuschauer minutenlang gekonnt an der Nase herumgeführt wird, erweist sich einleitend als Volltreffer. 

Als solcher entpuppt sich im Hinblick auf den Cast auch der vielfach leinwanderprobte Alexander Held (Der traurige König), der als aalglatter und eiskalter Geschäftsmann aus der klangvollen Besetzung um Aykut Kayacik (Auf der Sonnenseite) und Sylvester Groth (Das Dorf) noch einmal deutlich hervorsticht. Max Palu tat dies seit seinem ersten Einsatz – geschmeckt hat das vielen allerdings nicht.

Bewertung: 5/10

Tod auf der Walz

Folge: 613 | 6. November 2005 | Sender: BR | Regie: Martin Enlen
Bild: Avista Film/BR/Rolf von der Heydt
So war der Tatort:

Bayrisch-traditionell.

Denn zwischen Tippelbrüdern, Erwanderungen und Kuhköppen fordert diese Folge nicht nur das (nicht-bayrische) Publikum, sondern auch die Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) sprachlich besonders heraus. Die Ermittlungen im 41. Fall des Münchner Teams samt Assistenten Carlo Menzinger (Michael Fitz) führen weit hinaus ins rustikale Umland der Landeshauptstadt und ins Milieu der wandernden Handwerksgesellen, die ihren eigenen "Schnack" haben und nach althergebrachten Bräuchen leben.

Entsprechend idyllisch-pastoral beginnt der 613. Tatort: Begleitet von Mundharmonika-Musik beginnt der junge Zimmermann Mario Leitgeb (Tristano Casanova) beschwingt wie nervös seine Walz und lässt sein (fiktives) Heimatdorf Wurmannsreuth hinter sich. Kurz darauf findet man ihn tot unter einer Münchner Eisenbahnbrücke. Was wie ein Selbstmord aussehen soll, stellt sich schnell als deutlich komplexer heraus: Leitgeb wurde erschlagen. Danach wurde seine Leiche irgendwo hinuntergestürzt und schließlich unter der Brücke deponiert.

Vor diesem Leichenfund erlaubt uns Regisseur Martin Enlen (Das Glockenbachgeheimnis) einen kurzen Einblick in das Leben des blauäugigen jungen Mannes: Wie er sich von seiner besorgten Mutter Anny (Johanna Bittenbinder, Der Traum von der Au) verabschiedet, wie er in die Gemeinschaft der Tippelnden Brüder Hoffnungsschacht aufgenommen wird, wie er auf der Baustelle seines aktuellen Arbeitgebers Pirner (Anton Rattinger, Geld oder Leben) dessen Geldtasche klaut. Stets an Marios Seite ist sein Freund und Kollege Gerry Neuner – dargestellt von Maximilian Brückner, der später für sieben Fälle als Hauptkommissar Franz Kappl in Saarbrücken vor der Kamera steht, unter anderem im Tatort-Meilenstein Verschleppt.

Mario und Gerry wollen in der Herberge von Kolo Koidl (Elmar Wepper, Ende der Vorstellung) Marios Aufnahme in die Handwerkervereinigung feiern, doch als Franziska Brandl (Lisa Maria Potthoff, Hexentanz) eintrifft, kippt die Stimmung. Die junge Frau ist ebenfalls auf der Walz und war früher Marios Nachbarin im kleinen Wurmannsreuth. Aus Verliebtheit ist er ihrem Vorbild gefolgt und muss nun mit Entsetzen feststellen, dass sie inzwischen mit Gerry angebandelt hat.

So wissen wir schon etwas mehr über mögliche Konflikte, die zu Mario Leitgebs Tod geführt haben könnten, während sich Batic und Leitmayr erstmal mit dem Leben der Zimmerergesellen vertraut machen und vor allem die Sprachbarriere überwinden, die sich durch das spezielle Vokabular der Walzbrüder selbst für den gebürtigen Bayern Leitmayr auftut. Stück für Stück erarbeiten sie sich diese Welt abseits der Großstadt, die im krassen Gegensatz zu ihrem üblichen Umfeld steht: urbayrisch, oft übertrieben verschroben und hinterwäldlerisch. Hier hält man nichts von handwerkenden Frauen, trinkt tagein tagaus in der Gaststätte Bier und glaubt fest daran, dass Franzi mit einem Fluch belastet ist, der schon zwei Männer das Leben gekostet hat.


BATIC:
Da hast du dein Bayern: Helles Bier und finsterer Aberglaube.


Wenngleich das ländliche Umfeld stark überzeichnet ist: Die beschauliche Szenerie und die große Portion Lokalkolorit sorgen für eine willkommene Abwechslung im Vergleich zu anderen Fällen des Münchner Teams. Von der Stadt an der Isar sieht man in dieser Folge kaum etwas. Gleichzeitig driftet Tod auf der Walz aber dank der gar nicht so friedvollen Handlung keineswegs in die Richtung seichter Vorabend-Formate wie "Die Rosenheim-Cops" ab. 

Drehbuchautor Markus Fenner (Gesang der toten Dinge) baut vielmehr ein verwickeltes Beziehungsgeflecht auf: Jeder hat mit jedem etwas zu tun und niemand scheint ganz unschuldig zu sein. Obwohl wir mehr wissen als die Kommissare, fällt es uns sehr schwer, dem wilden Durcheinander zu folgen. Eine realistische Möglichkeit zum Mitraten in diesem Whodunit erhalten wir nicht. Zwei unerwartete Wendungen zum Schluss sorgen zwar für gelungene Überraschungsmomente, führen die losen Enden aber auch etwas zu perfekt zusammen.

Dass trotzdem Spannung entsteht, ist zu großen Teilen Lisa Maria Potthoffs toller Darstellung der Zimmerin Franzi Brandl zu verdanken. Überzeugend und einfühlsam spielt sie eine junge Frau, die von ihrer Vergangenheit nicht losgelassen wird und gegen die sich alle verschworen zu haben scheinen, während sie nur ihren Platz in der Welt finden möchte. Als sie von der Sympathieträgerin zur Hauptverdächtigen wird, verstärkt das unser Mitfiebern erst recht. 

Für (flache) Unterhaltungsmomente sorgt ansonsten das Sich-Lustig-Machen der großstädtischen Kommissare über das Landleben: Für den Undercover-Einsatz im Holzfällerhemd wählen sie Leitmayr per Nagelwettbewerb aus und küren ihn kichernd zum "Chefnagler von Wurmannsreuth". Heile Welt herrscht also eher im Münchner Polizeipräsidium als auf dem idyllischen Land.

Bewertung: 6/10