Unter uns

Folge: 676 | 14. Oktober 2007 | Sender: HR | Regie: Margarethe von Trotta
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Erschütternd bis ins Mark. 

Nicht wenige Zuschauer dürften beim Abspann von Unter Uns die eine oder andere Träne verdrücken – so wie es auch Hauptkommissarin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) tut, die ja bekanntlich nah am Wasser gebaut ist. 

Kameramann Axel Block (Zabou) friert die geschlossenen Augen der Hauptkommissarin in der letzten Einstellung des Films bildlich ein und schlägt damit einen stimmigen Bogen zum fast hypnotisch wirkenden Auftakt des Krimis: Nach einer düsteren, zunächst rätselhaften Anfangseinstellung, die das erschütternde Finale früh andeutet, sitzt Sänger in Yoga-Stellung mit geschlossenen Augen auf dem Fußboden und meditiert, während wie in der Schlussminute die wunderschöne Ballade Sometimes I Feel Like A Motherless Child in der Version von Odetta erklingt. Ein stimmungsvoller Einstieg in einen bedrückenden, hochklassigen Tatort, der mehr Sozialdrama als klassischer Krimi ist und in einer tieftraurigen Schlusspointe gipfelt. 

Drehbuchautorin Katrin Bühlig (Schön ist anders) bringt in Unter uns das Kunststück fertig, zwei völlig verschiedene Kriminalfälle stimmig miteinander zu verweben und bereitet den Paukenschlag in der Schlussviertelstunde gezielt vor: Immer wieder hat man als Zuschauer den Eindruck, dass der Handlungsstrang um ein kleines Kind, dass angeblich in einer Wohnung in Sängers unmittelbarer Nachbarschaft leben soll, sich aber nie in der Öffentlichkeit zeigt, eigentlich der viel beängstigendere der beiden ist. Man ahnt Böses – doch weil Bühlig vordergründig die Geschichte eines Geiseldramas erzählt, kommt der Zuschauer erst spät dazu, seine Befürchtungen konsequent zu Ende zu denken. 

Was geschieht nur in der Wohnung von André Winterberg (herrlich verlottert: der Berliner Ex-Tatort-Kommissar Stefan Jürgens, Dagoberts Enkel) und seiner Frau Ines (stark: Susanne-Marie Wrage, Im Abseits), die arbeitslos vor sich hin vegetieren, ihre zwei pubertierenden Söhne nicht im Griff haben und ihren Alltagsfrust schon zur Mittagszeit in der Stammkneipe ertränken?


DELLWO:
Warum war das Fenster zugeklebt?

WINTERBERG: 
Weil wir keine Gardinen hatten.


Zur Botschaft, die der mit Unter Uns vortrefflich betitelte Tatort dem Zuschauer nach dem Abspann mit auf den Weg gibt, passt dieses leichtfertige Wegsehen ganz hervorragend: Niemand hat ein Ohr für Sängers neue Nachbarin, die achtjährige Ronja Kubitz (Charlotte Lüder), denn jedem – ihrer Mutter Bea (Ulrike Krumbiegel, Summ, summ, summ) und auch den Frankfurter Kommissaren Sänger und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) eingeschlossen – schwirren andere Gedanken durch den Kopf, als auf die vermeintlichen Träumereien eines kleinen Mädchens zu hören. 

Auch das TV-Publikum kann diesen Aspekt leicht verdrängen, weil sich das Geschehen in den ersten zwei Filmdritteln weniger um die Winterbergs, sondern vielmehr um Geiselnehmer Wolfgang Kunert (charismatisch: Michael Brandner, Der Polizistinnenmörder) dreht: Arbeitslos, genervt und im Job-Center nach vierstündiger Wartezeit von der behäbigen Angestellten Heide Ganz (Lena Stolze, Bitteres Brot) zur Weißglut gebracht, dreht der Ex-Unternehmer durch, erschießt einen ihrer Kollegen und flüchtet mit der verängstigten Ganz im Auto vor der Polizei. 

Bemerkenswert ist hier vor allem die tolle Inszenierung der Affekttat: Regisseurin Margarethe von Trotta (Oscar-Nominierung für Das Versprechen) fängt das für alle Anwesenden nervtötende Reizklima im proppevollen Wartesaal messerscharf ein und weckt so beinahe Verständnis für die Verzweiflungstat, die der spätere Kidnapper schon im nächsten Moment wieder bereut. 

Als seine Flucht vor den Ordnungshütern erwartungsgemäß ein emotionales Ende findet, ist der 676. Tatort aber noch lange nicht vorbei: Die letzten Minuten zählen zum Bewegendsten, was die Krimireihe in ihrer bis dato fast vierzigjährigen Geschichte gesehen hat und machen spätestens bei den fast grotesk anmutenden Verhörszenen der Winterbergs unfassbar wütend. 

Hilflos, erschüttert und zutiefst bedrückt bleiben wir nach dem Abspann zurück – fassungslos angesichts der Grausamkeiten, die sich in den Jahren vor der Erstausstrahlung des Films in der Realität in ähnlicher Form abgespielt haben. 

Direkt Unter uns.

Bewertung: 10/10

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