HAL

Folge: 991 | 28. August 2016 | Sender: SWR | Regie: Niki Stein
Bild: SWR
So war der Tatort:

Gespickt mit Anspielungen auf Stanley Kubricks wegweisendes Science-Fiction-Meisterwerk 2001: Odyssee im Weltraum – und auch sonst so futuristisch wie bis dato kein zweiter Tatort.

Schon der Eingangssteg zur Zentrale der IT-Firma Bluesky, die beim 19. Fall der Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) den Dreh- und Angelpunkt des Geschehens bildet, mutet an wie der eines UFOs – und auch die sterilen Büroräume erhalten durch das konsequent in weiß, rot und blau gehaltene Interieur und die vielen Flachbildschirme einen fast raumschiffähnlichen Charakter.

Das kommt nicht von ungefähr: Der Krimititel HAL spielt auf den berühmten Bordcomputer HAL 9000 an, der sich in Kubricks Film über die Befehle seiner Schöpfer hinwegsetzt – und das tut in diesem Tatort bald auch das Bluesky-System. Entwickler David Bogmann (Ken Duken, Der Weg ins Paradies) und Geschäftsführerin Mea Welsch (Karoline Eichhorn, Die Feigheit des Löwen) haben ein selbstlernendes Programm entwickelt, das Big Data sammelt und für verschiedenste Zwecke ausschlachtet – doch spätestens, als Bogmann vergeblich versucht, einen fehlerhaften Character des Systems zu löschen, nimmt der schon oft erzählte Kampf zwischen Mensch und Maschine an Fahrt auf.

Selbst die Stuttgarter Ermittler werden in bester Terminator-Manier gescannt und zu gläsernen Persönlichkeiten – dabei wollen sie nicht Big Brother spielen, sondern den Mord an Callgirl Elena Stemmle (Sophie Pfennigstorf) aufklären, die als Probandin für Bluesky gearbeitet hat. Vor allem Offline-Verfechter Lannert findet die totale Durchleuchtung überhaupt nicht komisch, hat er doch nicht mal Lust, sich im Web 2.0 mit schwäbischen Digital Natives zu vernetzen.


LANNERT:
Ich brauch keine Freunde!


Regisseur und Drehbuchautor Niki Stein (Der Inder) teilt den 991. Tatort mit Zwischentiteln, die nach Werken Franz Kafkas benannt sind, in vier Abschnitte und greift zahlreiche Motive aus dem eingangs erwähnten Film in seinem fesselnden Überwachungsszenario auf: Kenner des Kubrick-Klassikers wird der einleitende Zeitlupen-Astwurf des kleinen Mädchens ebenso bekannt vorkommen wie die "Hänschen klein"-Melodie, die der schwächelnde HAL 9000 in der deutschen Fassung des Sci-Fi-Meilensteins zum Besten gibt.

An der Komplexität der Handlung dürften sich bei diesem Tatort vor allem technisch weniger versierte Zuschauer stören, wenngleich die Kommissare das ältere Publikum souverän durchs digitale Neuland navigieren und technische Fachbegriffe gekonnt im Vorbeigehen erklären, statt den Erzählfluss mit pädagogisch wertvollen Erläuterungen zu stören.

Wer Spaß an wendungsreichen Science-Fiction-Thrillern hat, kommt bei diesem mutigen und modernen Tatort voll auf seine Kosten, denn ähnlich wie im Blockbuster Minority Report kann Bluesky sogar Verbrechen im Voraus prognostizieren: Nicht nur ein spannender Aspekt für einen Krimi, sondern zugleich ein brandaktuelles Thema – man denke an die kontroverse Debatte um die Vorratsdatenspeicherung oder die Überwachung von Mobiltelefonen. Stein legt den Finger auf den Puls der Zeit und verteilt in Person der tangotanzenden Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) Seitenhiebe auf Google, Facebook & Co., denkt den Status Quo aber einen Schritt weiter: Was passiert, wenn wir unserer Technik nicht mehr trauen können?

Die Konsequenzen im Film sind dramatisch, die Vorstellung zutiefst beunruhigend, und HAL wird nicht erst nach dem genialen Twist im Schlussdrittel zum spannenden Vergnügen. Figuren wie den warnenden Wissenschaftler (hier: Bogmann) oder die profitorientierte Vorgesetzte (hier: Welsch) durften wir im Hollywood-Kino zwar schon häufig erleben, doch tut das der tollen Unterhaltung keinen Abbruch.

Bei der etwas hastig vorgetragenen Auflösung muss der Zuschauer aber ein Auge zudrücken: Einmal mehr führt ein Smartphone-Video (vgl. Eine andere Welt, Du gehörst mir) auf die Spur des Täters, das den Tathergang ein bisschen ausführlicher dokumentiert, als es der Glaubwürdigkeit gut tut.

Bewertung: 8/10

Durchgedreht

Folge: 990 | 21. August 2016 | Sender: WDR | Regie: Dagmar Seume
Bild: WDR/Martin Valentin Menke
So war der Tatort:

Abfällig. Dass es Rechtsanwälte, Journalisten und Politiker bei den Drehbuchautoren der Krimireihe schwer haben, ist hinlänglich bekannt – man denke nur an den Kölner Tatort Ohnmacht oder die Folge Roomservice aus Ludwigshafen.

In Durchgedreht bekommt mit den LKW-Fahrern eine weitere Berufsgruppe ihr Fett weg, und das ausgerechnet durch Publikumsliebling Freddy Schenk (Dietmar Bär): "Zehn Minuten linke Spur, und schon gleichauf", ätzt der Kölner Hauptkommissar bei der Befragung des von mangelndem Selbstwertgefühl zerfressenen Brummifahrers Gunnar Schwalb (Stephan Szász, Borowski und der vierte Mann) – er hat offenbar wenig für Trucker übrig.

Mit dem arroganten Schreiberling Ole Winthir (Peter Benedict, Hinter dem Spiegel) gibt es auch wieder einen unsympathischen Journalisten im Figurenensemble, der sogar zum Kreis der Tatverdächtigen zählt: Einleitend wird der Zuschauer Zeuge eines grausamen Doppelmordes, den die achtjährige Anna (Julie-Helena Sapina) im Gegensatz zu ihrer Mutter Freya Rödiger (Andrea Kratz) und ihrem kleinen Bruder überlebt. Eine nächtliche Rachetat, weil Rödigers über Nacht abwesender Lebensgefährte Sven Habdank (Alexander Beyer, Verfolgt) sich bei seiner Arbeit als Steuerprüfer einen Feind zuviel gemacht hat?

Ins Visier von Familienmensch Schenk und Junggeselle Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) gerät auch Bauunternehmer Pit Benteler (Max Herbrechter, Pauline), dessen Schicksal allerdings früh zu erahnen ist und erfahrene Krimi-Zuschauer kaum von der richtigen Auflösung abbringen dürfte. Anders als Journalist Winthir erhält Benteler als Figur auch keinen nennenswerten Tiefgang: Die Charakterzeichnung fällt genauso oberflächlich aus wie das Kölsche Gemecker über das deutsche Steuersystem, das im gewohnt sozialkritischen Tatort aus der Domstadt natürlich nicht fehlen darf.


BALLAUF:
Wenn ich mir angucke, was von meinem Bruttogehalt überbleibt...


Regisseurin Dagmar Seume (Benutzt) und Drehbuchautor Norbert Ehry (Dicker als Wasser) erzählen einen mit melodramatischen Elementen angereicherten klassischen Whodunit, der von Minute 1 bis 88 in geordneten Bahnen verläuft.

Ihr Krimi fühlt sich aber eher an wie ein Familiendrama, weil manches hinter dem Rücken der Kommissare abläuft und die emotionalen Reizpunkte in der Verwandtschaft der Toten liegen: Während Habdanks Bruder Michael (Christian Erdmann) ein Verhältnis zur Ermordeten nachgesagt wird, lodert im Hause Schwalb der unterschwellige Sozialneid. Fragen gibt es unter dem Strich nur zwei zu beantworten: Wer ist hier Durchgedreht - und warum?

Der Weg zur Antwort führt über endlose Aneinanderreihungen von Dialogen, die den 990. Tatort nach dem beklemmenden Auftakt im Elternhaus der kleinen Anna in ein einstündiges Spannungsloch stürzen lassen. Die ermüdenden Allgemeinplätze zum deutschen Steuersystem drosseln die Dynamik zusätzlich, während andere Sequenzen wie Fremdkörper wirken: Assistent Tobias Reisser (Patrick Abozen) wird in seinem Büro dabei ertappt, wie er im Asservatenverzeichnis einen schwarzen Dildo angeklickt hat, steht aber deutlich weniger im Blickpunkt als wenige Monate zuvor in der Bonnie-und-Clyde-Abwandlung Kartenhaus.

Dass Durchgedreht unter dem Strich dennoch ein sehenswertes Krimidrama ist, liegt neben der handwerklich soliden Umsetzung am emotionalen Showdown: Als die Katze aus dem Sack und die Täterfrage geklärt ist, ziehen die Filmemacher die Spannungsschraube spürbar an, so dass das dramatische Ende ein Stück weit für die Längen im dialoglastigen Mittelteil entschädigt. Da darf auch die obligatorische Verfolgungsjagd nicht fehlen, die allerdings über wenig aufregende Landstraßen und nicht etwa durch die vielbefahrene Kölner City führt.

Apropos Innenstadt: Nach monatelanger Abstinenz gibt es endlich ein Wiedersehen mit der kultigen Wurstbraterei am Rheinufer, die die Kommissare baustellenbedingt schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr aufsuchen durften, wie uns Schauspieler Dietmar Bär im Interview verriet.

Bewertung: 5/10