Märchenwald

Folge: 576 | 24. Oktober 2004 | Sender: NDR | Regie: Christiane Balthasar
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Märchenreich.

Denn der pfiffige Krimititel ist in diesem Tatort Programm: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) verschlägt es bei ihrem fünften Einsatz in ein Waldstück nahe des fiktiven Örtchens Lengsfeld, das südlich von Hameln angesiedelt ist – ein Förster hat dort eine Leiche gefunden und bei der Suche nach dem Mörder bekommt die niedersächsische LKA-Kommissarin erwartungsgemäß nicht nur die Wahrheit, sondern auch jede Menge Märchen und Halbwahrheiten aufgetischt.

Die Ausgangslage in Märchenwald könnte für einen Tatort aus Niedersachsen damit klassischer kaum ausfallen: Ein einleitender Anruf des Vorgesetzten, die übliche Autofahrt von Hannover in die Provinz und das Einquartieren in der einzigen Gastwirtschaft eines kleinen Dorfes – all das gab es in den Krimis mit Lindholm bereits zu sehen und wird vom federführenden NDR im Jahr 2004 immer fester als Markenzeichen der Folgen mit Charlotte Lindholm etabliert.

Auch der vor Ort zuständige Dorfpolizist, der kognitiv nicht mit der cleveren Ermittlerin aus der Großstadt mithalten kann, ist fester Bestandteil dieses Konzepts: Hier ist es der sympathische Hobby-Astrologe Karl Mertens (Charly Hübner, übernimmt 2010 als Polizeiruf 110-Kommissar Alexander Bukow die Rolle seines Lebens). Mertens schaut zu Lindholm auf, tanzt nach ihrer Pfeife und ist stets darum bemüht, dass es ihr an nichts mangelt.

Doch da ist noch jemand, dem die alleinstehende Kommissarin in diesem Krimi zum ersten Mal begegnet: Märchenwald ist auch das Tatort-Debüt von Tobias Endres (Hannes Jaenicke, Die Liebe der Schlachter), der Lindholm zunächst mit Komplimenten umgarnt, ehe er sie bei einer Flasche Rotwein verführt und noch in zwei weiteren Folgen aus Niedersachsen zu sehen ist.


LINDHOLM:
Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen?

ENDRES:
Außer Ihnen? Nichts, nein.


Anders als andere Drehbuchautoren – wir denken an Lindholm-Fälle wie Schwarze Tiger, weiße Löwen – begehen Orkun Ertener (Väter) und Martina Mouchot (Pauline) allerdings nicht den Fehler, den Kriminalfall mit dieser spannungsarmen Liaison zu erdrücken: Das erste Date, für das sich Lindholm zu den Klängen von Baby Love binnen Sekunden aus einem Schlafanzug in angemessenere Garderobe wirft, wird durch die plötzliche Müdigkeit ihres Verehrers ironisch aufgebrochen und läuft dadurch nicht Gefahr, in den Kitsch abzudriften.

Auch sonst tragen die Filmemacher im Hinblick auf die Tatverdächtigen wohldosierter auf als in manch anderer Folge aus Niedersachsen: Kamen die Dorfbewohner im enttäuschenden Vorvorvorgänger Hexentanz noch als übertrieben engstirnige Hinterwäldler daher, sind sie hier stärker in der Realität verortet. Da werden fortschrittlich denkende Zugezogene wie der aus Ostdeutschland stammende Waldbesitzer Werner Freden (Michael Wittenborn, Herrenabend) zwar mit Argwohn betrachtet, aber nicht partout verteufelt.

Mit dem überzeichneten Landei Walter Gramisch (Felix Vörtler, ...es wird Trauer sein und Schmerz), das sein monatliches Einkommen am liebsten in Hamelns Bordellen verjubelt, gibt es im 576. Tatort lediglich ein Klischee auf zwei Beinen – seine kleinkriminellen Machenschaften sind außerdem ein sicheres Indiz dafür, dass er im Hinblick auf die Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion als Täter ausscheidet. Den Mörder unter dem halben Dutzend Tatverdächtiger vor Minute 60 vorauszusagen, gestaltet sich dennoch angenehm knifflig.

So ist Märchenwald unterm Strich ein sehr klassisch arrangierter, von Regisseurin Christiane Balthasar (Mördergrube) routiniert in Szene gesetzter und geradliniger Tatort, der selten langweilt und sogar mit Anleihen aus dem Rühmann-Klassiker Es geschah am hellichten Tag aufwartet (vgl. die einleitende Begegnung im Wald und die Kinderzeichnung). Und er weiß einen heimlichen Publikumsliebling in seinen Reihen, dem man noch mehr Zeit vor der Kamera gewünscht hätte: Die joggende Frau Behrendt (Hannelore Lübeck, Requiem), die "Frau Lindwurm"  bei einer kurzweiligen Plauderstunde ungefragt Rum in den Tee kippt und später ihrem Mitbewohner ein Quartier bietet, stiehlt einfach jede Szene.

Für Martin Felser (Ingo Naujoks), der nach einem ominösen Chinatrip erst mit Verspätung in die Provinz reist und selbst kaum zu wissen scheint, was er dort eigentlich soll, gilt das freilich nicht: Schon nach fünf Auftritten scheint dem NDR zu dieser Figur, die auch später nur noch für mahnende Worte und fürs Babysitten da ist (vgl. Vergessene Erinnerung), nicht mehr viel einzufallen – und weil Lindholm ab sofort in den Armen von Tobias Endres bestens aufgehoben scheint, deutet sich Felsers Schicksal als fünftes Rad am Wagen bereits an.

Bewertung: 6/10

Herzversagen

Folge: 575 | 17. Oktober 2004 | Sender: HR | Regie: Thomas Freundner
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Tränenreich. 

Denn beim fünften Einsatz der Frankfurter Hauptkommissare Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) wird das Weinen der mental gebeutelten Ermittler endgültig zum Markenzeichen der Krimis vom Main: Während die nah am Wasser gebaute Sänger bei fast jedem ihrer Einsätze früher oder später mit den Tränen kämpft und weiterhin am Tod ihrer brutal ermordeten Eltern zu knapsen hat, bringt das teilnahmslose Geständnis des Täters diesmal sogar ihren Kollegen zum Schluchzen. 

Doch Herzversagen ist kein rührseliger Krimi, bei dem die Filmemacher mit billigen Tricks auf die Tränendrüse drücken: Die hohe Intensität dieses vielgelobten Films resultiert aus der gekonnten Einbindung der Kommissare in die Geschichte und der großen Empathie, die sie den ergrauten Opfern entgegenbringen. 

Im neunten Tatort von Regisseur Thomas Freundner (Väter), der gemeinsam mit Stephan Falk (Kassensturz) auch das Drehbuch schrieb, wird der Zuschauer ohne jeden Kitsch in eine Welt entführt, für die er sich normalerweise kaum interessiert. "Wir sind die Armee der Unsichtbaren", verrät eine namenlose alte Dame (Christel Peters, Das ewig Böse) Dellwo bei dessen Nachforschungen in einem Supermarkt – und spielt damit auf die öffentliche Nicht-Wahrnehmung alleinstehender Rentnerinnen an, die in ihren Wohnungen ein vereinsamtes Dasein fristen und sich etwas tagelang darauf freuen können, dass der junge Mann vom Lesezirkel (Jan Henrik Stahlberg, Schneetreiben) eine neue Zeitschrift bringt. 

Auch die Ermittler verschlägt es einleitend in zwei dieser Wohnungen: Während Sänger beim Notar noch den Nachlass ihrer Eltern regelt und sich bei der verstorbenen Elisabeth Anuschek (Ein Herz und eine Seele-Legende Elisabeth Wiedemann, Das Zittern der Tenöre) mehr schlecht als recht von den Assistenten Ina Springstub (Chrissy Schulz) und Kruschke (Oliver Bootz) vertreten lässt, jagt Dellwo einen Handtaschenräuber durch Frankfurt und landet über Umwege in der Wohnung einer Frau, die bereits seit einem Jahr tot in ihrem Sessel hockt. Psycho lässt grüßen.

Wie im thematisch ähnlich gelagerten, herausragenden Berliner Tatort Hitchcock und Frau Wernicke schlagen die Filmemacher hier die Brücke zum Master of Suspense – doch anders als in Alfred Hitchcocks Meisterwerk mit Anthony Perkins vermoderte die alte Dame nicht einem abgelegenen Motel, sondern in einem Mietshaus mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel. Das heißt aber nicht, dass man sie dort wahrgenommen hätte: Kein einziger Nachbar will bemerkt haben, dass die Tote ihre Wohnung seit fast einem Jahr nicht mehr verlassen hat. 

Auch wenn Dellwos einleitende Junkie-Jagd an den Ort des Geschehens etwas überkonstruiert wirkt, bildet der Fund der dehydrierten Rentnerin doch einen stimmungsvollen und gruseligen Einstieg in einen Tatort, der ansonsten eher selten mit Spannungsmomenten aufwartet: Herzversagen, der 2005 mit dem Adolf Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, ist vielmehr eine bedrückende Sozialstudie als ein packender Krimi, dank der starken Besetzung und der beklemmenden Geschichte aber zu keiner Minute langweilig. 

Je tiefer Sänger und Dellwo in die Welt der "Unsichtbaren" eindringen, desto stärker geht der 575. Tatort an die Nieren: Wahnsinnig rührend und herausragend gespielt ist zum Beispiel Sängers Besuch bei der dementen Frau Kleinschmidt (Edeltraud Schubert, Gesang der toten Dinge), die die Kommissarin bei der Suche nach ihrem Gebiss um Hilfe bittet und ihr Gesicht schon am nächsten Tag wieder vergessen hat. 

Als Whodunit funktioniert der fünfte Fall von Sänger und Dellwo aber nur bedingt: Mit dem gelernten Kürschnermeister Alexander Nilgens (Friedrich Schoenfelder) und Junkie Jörg "Jerry" Pahlke (Henning Peker, Waidmanns Heil) legen die Filmemacher zwar gleich zwei falsche Fährten, doch ist der Zuschauer bei der Suche nach der richtigen Auflösung letztlich chancenlos, weil dem Täter nur eine einzige Sequenz gewidmet ist. 

Die etwas zu knappe Abhandlung des erschütternden Schlussakkords ist zugleich die einzige kleine Schwäche einer ansonsten überragenden und zutiefst traurig stimmenden Tatort-Folge aus Frankfurt, die bis heute eine der stärksten aus Hessen ist.

Bewertung: 9/10

Stirb und werde

Folge: 574 | 10. Oktober 2004 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Marlies Henke

So war der Tatort:

Thanatologisch.

Inspiriert von der griechischen Mythologie, bekommt es Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) bei seinem dritten Einsatz für die Krimireihe nämlich mit einem ebenso außergewöhnlichen wie ebenbürtigem Serienmörder zu tun. Dessen kryptisch anmutende Taten erfordern erneut die Unterstützung von Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert), verlangen aber auch dem namenlosen und nur in dieser einen Folge auftretenden Kieler Rechtsmediziner (Robert Meller, Der König der Gosse) sein ganzes Können ab.

Bereits der Auftakt der 574. Tatort-Folge gestaltet sich für ihn und uns ziemlich rätselhaft: Eine Gruppe von Musikschülerinnen findet beim Betreten eines Konzertsaals gemeinsam mit ihrer Lehrerin die Leiche eines Mädchens, das festlich gekleidet an einem schwarzen Flügel sitzt. Zunächst scheint niemand die Tote zu kennen – und auch der erwähnte Pathologe wird nicht so recht schlau aus ihr.


BOROWSKI:
Und?

RECHTSMEDIZINER:
Keine Ahnung. Keine Spuren äußerer Gewaltanwendung. Keine charakteristischen Krankheitssymptome. Kein klarer Hinweis auf eine Intoxikation. Keine Ahnung.

BOROWSKI:
Zeitpunkt des Todes?

RECHTSMEDIZINER:
Keine Ahnung.


Der ungeduldige Borowski, dem im 574. Tatort erneut der stets bemühte, aber ungeschickt agierende Oberkommissar  Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) zur Seite steht, ist dennoch bald im Bilde: Thanatopraxie – abgeleitet von Thanatos, dem Gott des sanften Todes – ist die ästhetisch und hygienisch einwandfreie Aufbahrung von Verstorbenen. Will heißen: Die Tote wurde einbalsamiert. Und sie bleibt nicht die einzige. Doch wer tut so etwas – und warum?

Das Drehbuch von Orkun Ertener, der bereits beim Borowski-Erstling Väter federführend war, sieht vor, dass wir  von Beginn an um das "wer" wissen. Dieses Konzept, das in den folgenden Jahren noch viele weitere Krimis von der Förde auszeichnet, erweist sich auch diesmal unter Regie von Claudia Garde (Borowski in der Unterwelt) als reizvoll. Das Handeln des umsichtig und strukturiert agiereden Stefan Gärtner (stark: Matthias Brandt, Absturz) ist uns stets präsent, ohne dass wir bezüglich seines Motivs einen Wissensvorsprung genießen. Wir sehen ihn als fürsorglichen Ehemann an der Seite seiner schwangeren Frau Andrea (Anna Thalbach, Absolute Diskretion), zum anderen bei der Vorbereitung seiner Taten. Was ihn antreibt, darüber lässt uns der als Whydunit startende Film, der sich auf der Zielgeraden zum Howcatchem wandelt, aber lange im Dunkeln.

Auch das Geschehen im Präsidium hat Einiges zu bieten – allem voran den diesmal nicht nur psychisch, sondern auch physisch angeschlagenen Borowski, dessen linker Arm schmerzt und dem sein Vorgesetzter Roland Schladitz (Thomas Kügel) den Urlaub mit Tochter Carla (Neelam Schlemminger, Sternenkinder) verwehrt. Das sorgt für dicke Luft und wunderbar knackige Dialoge. Die Vater-Tochter-Beziehung hingegen, die bereits in Väter ausführlich illustriert wurde, erfährt hier nur indirekt eine Fortsetzung, da die gerade eingetroffene Carla ihren verdutzten Papa einfach am Bahngleis stehen lässt und direkt wieder in den Zug nach Hause steigt. Eine bewegende Szene, die auch am nach außen meist so gefasst wirkenden Borowski nicht spurlos vorbeigeht. 

Der Kieler Kriminalist raunzt Kollegen und Zeugen an, verliert die Beherrschung und lässt sich beim dramatischen Showdown am Containerhafen sogar zu einer waghalsigen und sicher nicht den Vorschriften entsprechenden Alles-oder-nichts-Aktion hinreißen. Der schwedische Kultkommissar Kurt Wallander lässt grüßen! Und selbst die sympathisch-offenherzige Altenpflegerin Iris (Solveig Arnarsdottir), die Borowski beim Seniorentänzchen befragt, vermag mit ihrem Charme das Herz des kauzigen Kommissars nicht zu erweichen. Beim naiven Zainalow hat es die Damenwelt leichter: Sein Techtelmechtel mit der attraktiven und (natürlich!) sensationslüsternen Klischee-Journalistin Anke Rudolf (Tamara Simunovic, Der schwarze Ritter) nervt gewaltig und knüpft damit nahtlos an seinen unglücklichen Auftritt im enttäuschenden Vorgänger Schichtwechsel an.

Stirb und werde, dessen Titel auf einen Vers aus Goethes Gedicht Selige Sehnsucht verweist, weiß da unterm Strich schon eher zu gefallen – auch wenn die Spannung lange Zeit spärlich dosiert ist und es an psychologischer Tiefe bezüglich des Täters mangelt. Insbesondere die wirkungsvollen Bilder, die authentischen Dialoge und der überzeugende Cast entschädigen dafür. Zur Besetzung zählt übrigens auch die zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung noch eher unbekannte Lavinia Wilson, die bei einem Kurzauftritt als Schwester des ersten Opfers zu sehen ist und sich an Borowskis Schulter ausweinen darf. 

Apropos:


JUNG:
Wie geht es Ihnen?

BOROWSKI:
Ich kann nicht klagen.

JUNG:
Nein, können Sie nicht.


Bewertung: 6/10

Odins Rache

Folge: 569 | 11. Juli 2004 | Sender: WDR | Regie: Hannes Stöhr
Bild: WDR/Thekla Ehling
So war der Tatort:


Lebensgefährlich. 

Und das nicht nur für Nazi-Braut und Ex-Punkerin Astrid Gehrmeier (grandios: Sandra Borgmann, Fette Krieger), die nach der Ermordung zweier Neonazis die nächste auf der Todesliste eines Scharfschützen, der die Verantwortlichen für einen Brandanschlag auf ein türkisches Restaurant der Reihe nach abknallt, zu sein scheint. 

Nein, lebensgefährlich wird es in Odins Rache auch für den bemitleidenswerten Kölner Hauptkommissar Max Ballauf (Klaus J. Behrendt), der nach einer Stippvisite in einem türkischen Lokal selbst das Opfer einer glatzköpfigen Schlägertruppe wird und für den Rest des Tatorts mit einem üppigen Dieter-Hoeneß-Gedächtnisturban durch die Gegend spaziert. 

Ballauf wäre aber nicht Ballauf, wenn er das Krankenhaus nicht schon bei der ersten Gelegenheit wieder verließe, um seinen Kollegen Freddy Schenk (Dietmar Bär) bei den Ermittlungen zu unterstützen. Doch damit nicht genug: Ballauf lässt sich auf dem Präsidium nicht nur von Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) pflegen, sondern tatsächlich ein Krankenbett vor seinen Schreibtisch karren! 

Regisseur Hannes Stöhr, der auch das Drehbuch zu Odins Rache schrieb, überzeichnet den harten Hund Ballauf hier herrlich und macht früh deutlich, dass trotz der ernsten Thematik auch immer wieder geschmunzelt werden darf – so wie es sich für einen Kölner Tatort gehört. Ein weiteres Beispiel dafür ist Freddys denkwürdiger Auftritt als Skinhead mit Sonnenbrille und Bomberjacke, der den Kölner Kommissar einmal nachempfinden lässt, wieviel Angst ein solches Erscheinungsbild bei Passanten verbreitet.

Odins Rache ist nicht nur ein Paradebeispiel dafür, wie gut der Tatort als gesellschaftskritische Milieustudie funktionieren kann, sondern in seiner Thematik zugleich absolut zeitlos: Über sieben Jahre vor dem Bekanntwerden der NSU-Morde, in deren Zuge sich 2011 das Versagen von Polizei und deutschem Verfassungsschutz offenbarte, inszeniert Stöhr ein Schreckensszenario, das in der heutigen Zeit genauso gut denkbar wäre. 

Gleich mehrfach geraten die Kölner Kommissare mit der undurchsichtigen Ute Meier-Brinkmann (souverän: Barbara Rudnik, Und dahinter liegt New York) vom Verfassungsschutz und deren nicht gerade zimperlichem V-Mann Olaf (Dirk Borchardt, Der Lippenstiftmörder) aneinander, ohne wirklich zu ahnen, was die beiden für ein gefährliches Spiel treiben. 

Auch der wortkarge Vorzeige-Nazi Keller (furchteinflößend: Jurgen Drenhaus) und der aalglatte Anwalt und Politiker Helmut Hartmann (Peter Rühring, Vermisst) geben Ballauf und Schenk Rätsel auf, die den Zuschauer bis zum Showdown auf einem Parkplatz am Kölner Flughafen mitfiebern lassen. 

Die Dialoge sitzen ebenfalls und runden den 569. Tatort, bei dem mehr SEK-Einsätze angeordnet als Kölsch getrunken werden, zu einem herausragenden Sonntagskrimi ab, der zudem von einem starken, auffallend düsteren Score kaum treffender begleitet werden könnte. 


MEIER-BRINKMANN:
Manchmal muss man kleine Brände legen, damit das große Feuer gelöscht wird.

BALLAUF: 
Ach, Sie wissen doch selber, dass die größten Brandstifter oft Feuerwehrleute sind.


Bewertung: 9/10

Mörderspiele

Folge: 565 | 25. April 2004 | Sender: WDR | Regie: Stephan Meyer
Bild: WDR/Michael Böhme
So war der Tatort:

Kopflos – doch zum Glück nicht im übertragenen, sondern lediglich im wörtlichen Sinne. 

Als Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) eine feinsäuberlich verschnürte Leiche aus dem nahe Münster gelegenen Aasee ziehen, ist die dank wasserdichter Verpackung nämlich noch ziemlich gut erhalten – nur fehlt ihr eben der Kopf, was die Zuordnung des Torsos nicht gerade zu einem Kinderspiel macht. 

Vielmehr sind es Mörderspiele, die die beiden Ermittler in einer der ernsteren Tatort-Folgen aus Münster gehörig auf Trab halten und lange an der Nase herumführen. Der Leichen-Fundort in einem See ist dabei noch der unspektakulärere: Die zweite Leiche wird nämlich – nicht minder aufwändig verpackt – publikumswirksam über den Dächern der Altstadt von Münster in Position gebracht und kann dort erst mithilfe eines Feuerwehrkrams geborgen werden. 

Ein Hauptverdächtiger ist mit Sigbert Helmhövel (Karl Kranzkowski, Wo ist Max Gravert?), dem Ehemann des mutmaßlichen ersten Opfers und Bruder der kaum minder tatverdächtigen Monika Hanke-Helmhövel (großartig: Rosel Zech, Veras Waffen), schnell ausgemacht – dumm nur, dass er wenig später von der Bildfläche verschwindet und mit seiner Schwester Monika nur noch eine echte Verdächtige übrig bleibt.

Dennoch wird Mörderspiele selten langweilig: Zum einen lässt Regisseur und Drehbuchautor Stephan Meyer lange im Unklaren, ob diese die Tat selbst erledigt hat, zum anderen steht sie in einem ganz speziellen Verhältnis zu Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann). Welcher Natur dieses ist, soll an dieser Stelle nicht verraten werden – doch steht die kettenrauchende Juristin dadurch im 565. Tatort wie in kaum einem zweiten der Reihe im Fokus der Ermittlungen. 

Vor allem in der ersten Hälfte des Krimis ist Boerne und seine kleinwüchsige Assistentin Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) vergleichsweise wenig Kamerapräsenz vergönnt, weil Klemm immer wieder mit Thiel über das weitere Vorgehen und die möglichen Konsequenzen für beide debattiert. Und spätestens auf der Zielgeraden, wenn der Kommissar seiner Vorgesetzten in bester Hollywood-Manier das Leben retten darf, wird klar: Mörderspiele ist ein eher untypischer Tatort aus Münster, denn es gibt vergleichsweise wenig humorvolle Passagen. 

Gelacht werden darf trotzdem: Spaßigste Sequenz ist diesmal Boernes folgenreicher Ausflug aufs Land, der ihn nach einer Autopanne direkt in die Arme von Hanke-Helmhövel führt. Und die wartet schon mit Rotwein auf den Professor. Na denn: Prost!

Bewertung: 7/10

Janus

Folge: 564 | 18. April 2004 | Sender: HR | Regie: Klaus Gietinger
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Pseudopsychologisch.

Denn die Frankfurter Kommissarin Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki), die einleitend bei der Beerdigung von ihren ermordeten Eltern Abschied nimmt und beim Leichenschmaus direkt zur nächsten Leiche gerufen wird, versucht sich in diesem Tatort als Psychologin – so wie es auch die Filmemacher tun, die damit aber (anders als die nah am Wasser gebaute Ermittlerin) auf ganzer Linie scheitern. 

Janus ist der zu diesem Zeitpunkt vierte und zugleich mit Abstand schwächste Krimi mit Sänger und ihrem Kollegen Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) – und das hat mehrere Gründe. Beginnen wir nicht mit den überzeichneten Tatverdächtigen oder dem phasenweise in die unfreiwillige Komik abdriftenden Drehbuch von Klaus-Peter Wolf (Licht und Schatten), sondern mit den enttäuschenden Jungschauspielern: Nach dem Mord an einer Schulpsychologin sind wir live im Klassenzimmer dabei – bekommen dort aber schauspielerische Leistungen geboten, die der besten Sendezeit im deutschen Fernsehen kaum würdig sind. Auch die hölzernen, stellenweise mit Präteritum und Konjunktiv gespickten Dialoge ("Sie sagte, ich sei ein Instrument seiner Rache!") hört man im Alltag eher selten.

Noch deutlich ärgerlicher gestaltet sich der Auftakt der Ermittlungen: Weder der anstrengende Staatsanwalt Dr. Scheer (Thomas Balou Martin) noch Kripochef Rudi Fromm (Peter Lerchbaumer) schreiten nennenswert ein, als die um ihre Eltern trauende Sänger bei der blutigen Tatort-Besichtigung spontan und eigeninitiativ anbietet, an der Schule in die Bresche zu springen und als Interimsnachfolgerin des Mordopfers undercover auf Täterfang zu gehen. 


SÄNGER:
Ich könnte das machen.

FROMM:
Aha, ja das ist die Lösung! Im Grunde genommen könnte man kaum verantworten, eine vollkommen unbedarfte Psychologin dieser Gefahr auszusetzen. Das ist ja ein bisschen so, als wenn man ein einzelnes Schaf auf ein Wolfsrudel treibt.


Bitte was? Eine just um ihre Eltern gebrachte Polizistin ohne Psychologiestudium oder einschlägige Erfahrung im Umgang mit Jugendlichen auf ein aus Internatsschülern bestehendes "Wolfsrudel" anzusetzen, ist eher nicht die naheliegende Lösung – sondern vielmehr so konstruiert, dass sich die Balken biegen. Geradezu abenteuerlich wird es im letzten Filmdrittel, in dem das Leben der suizidgefährdeten Anne Walter (Nadja Bobyleva, Borowski in der Unterwelt) am seidenen Faden hängt und Sänger – wie könnte es anders sein – einen erstklassigen Job an der Front macht. Der Erfolg gibt ihr eben Recht. 

Ehe ihre Ermittlungen im Internat, die in ein reizvolles Versteckspiel hätten münden können, so richtig an Fahrt gewinnen, sind sie aber schon wieder vorbei: Mit dem von Jürgen Tarrach (Gestern war kein Tag) fast karikaturesk gespielten Intensivspanner Karl Lichti ist ein Hauptverdächtiger für den Mord schnell ausgemacht, weil er in Bedrängnis mehrere Kurzschlussreaktionen begeht – von seiner nicht minder überzeichneten Rechtsanwältin, einem nervtötenden Klischee auf zwei Beinen, aber mühelos rausgeboxt wird. Als viel zu verdächtiger Kleinkrimineller – so ist das nun mal im Tatort – scheidet er als Mörder ohnehin aus.

Momente wie diese sind zum Haareraufen und liegen weit unter dem meist hohen Niveau  des Hessischen Rundfunks (man denke an den packenden Vorvorgänger Frauenmorde oder spätere Highlights wie Weil sie böse sind), aber im 564. Tatort sind sie eher die Regel als die Ausnahme. Andere, weniger stereotype Figuren bleiben in ihrem Handeln rätselhaft – so etwa die Lehrerin Michaela Metzner (Barbara Philipp, ab 2010 regelmäßig als Magda Wächter im Tatort aus Wiesbaden zu sehen), die Sänger erst das Feld überlässt und später ohne Not den Schwanz einzieht.

Auch die privaten Nebenkriegsschauplätze sind zwar für die am Main ohnehin relativ intensive Charakterzeichnung der Hauptfiguren ein Gewinn, für die Spannung und Realitätsnähe aber nicht: Weil Dellwo keine Wohnung mehr hat (und pausenlos telefonieren muss), quartiert er sich bei Sänger ein – und man kann die Uhr danach stellen, dass sich das im entscheidenden Moment noch auszahlt. 

Als klassischer Whodunit zum Miträtseln funktioniert Janus unter Regie von Klaus Gietinger (Unschuldig), der zum letzten Mal einen Tatort inszeniert, durchaus passabel, aber als Psychogramm scheitert der Film an seinen eigenen Ansprüchen völlig: Mit dem undurchsichtigen Lehrer Felix Klär (Roman Knizka, Das Phantom) gibt es noch eine weitere Figur, deren Psyche wir uns spät, aber dafür sehr intensiv nähern dürfen. Und spätestens hier wird überdeutlich: Man hätte besser einen echten Psychologen in die Produktion dieser missglückten Tatort-Folge einbeziehen sollen  – denn angesichts der haarsträubenden Küchenpsychologie und Plattitüden an allen Ecken und Enden retten die wenigen guten One-Liner am Ende nur wenig.


DELLWO:
Kolumbus hat Amerika auch nicht gesucht und trotzdem gefunden.

Bewertung: 3/10

Hundeleben

Folge: 563 | 12. April 2004 | Sender: WDR | Regie: Manfred Stelzer
Bild: WDR/Uwe Stratmann
So war der Tatort:

Sehr gut gealtert.

Denn auch Jahrzehnte nach seiner Erstausstrahlung hat dieser Kölner Tatort nichts, aber auch gar nichts von seiner hohen Relevanz eingebüßt: So wie der Ludwigshafener Tatort Schöner sterben, der ein Jahr zuvor ausgestrahlt wurde, spielt der clever betitelte Tatort Hundeleben über weite Strecken in einem Altenheim – aber anders als der harmlose Fadenkreuzkrimi mit Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) machen die Filmemacher die Missstände im deutschen Pflegesystem auch gnadenlos zum Thema.

Regisseur Manfred Stelzer (Der doppelte Lott) und Drehbuchautorin Nina Hoger, die sich in den Jahren davor und danach als erfolgreiche TV-Darstellerin einen Namen machte, legen den Finger in die Wunde der Gesellschaft und arbeiten schonungslos heraus, was es heißt, im Jahr 2004 auf der letzten Lebensstation für alte, demente und bisweilen sehr aufmüpfige Senioren zu arbeiten. 40 Mittagessen in 20 Minuten, Arsch abwischen für 5 Euro die Stunde, statt eines Dankeschöns pausenlos Widerworte: Das ist der Alltag von Tatjana Riegelsberger (Anneke Kim Sarnau, Die Heilige), die sich im Altenheim "Abendrot" abrackert und kurz vor dem Nervenzusammenbruch steht.

Die ebenso überlastete wie unterbezahlte Pflegerin ist der Dreh- und Angelpunkt des Whodunits, in dem die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) einen Mord aufklären müssen: Vor den Toren des Heims kommt die Ärztin Dr. Rose Lang (Kerstin Thielemann, Des Teufels langer Atem) zu Tode, die allein gelebt hat – auch wenn Ballauf das bei der Begehung ihrer Wohnung nicht wahrhaben will. Denn wer attraktiv ist, kann in Ballaufs Gedankenwelt kein glückliches Single-Leben führen.


BALLAUF:
Weißt du, was ich merkwürdig finde? Hier gibt's überhaupt keinen Hinweis auf 'ne Liebesbeziehung. Keine Spur von 'nem Mann. Ich mein: Frau Dr. Lang ist doch ne attraktive Frau gewesen. Die muss doch 'ne Beziehung gehabt haben.

SCHENK:
Du hast ja auch keine. Außer zu mir natürlich.


Während Ballauf hier negativ durch aus der Zeit gefallene Rollenvorstellungen auffällt, hat Schenk in diesem Tatort gleich zweierlei Sorgen: Das ist zum einen seine Großmutter Margot (Helga Göring, Schlaf, Kindlein, schlaf), die er zufällig noch vor dem Mord in dasselbe Altenheim gesteckt hat, vor dem kurz darauf die Leiche liegt. Und da ist "Luxemburg", der Hund der Toten, den er nicht im Tierheim verkümmern lassen, sondern mit zu sich nach Hause nehmen will. Sehr zum Ärger seiner Frau, die ihn direkt wieder rausschmeißt und die das Publikum auch in dieser Tatort-Folge nicht zu Gesicht bekommt.

Diese Drehbuchmanöver sind zugleich die größten Schwächen des ansonsten so hervorragend gelungenen und mit einigen starken One-Linern gespickten Krimis: Schenks Oma im Altenheim zu platzieren, eröffnet zwar erzählerische Möglichkeiten, weil vieles hinter dem Rücken der Kommissare stattfindet, aber es wirkt auch verdammt konstruiert. Die zahlreichen Luxemburg-Szenen hingegen, die Ballauf den Nerv rauben und Schenk Sympathiepunkte bei Tierfreunden einbringen, fallen in ihrer Tonalität eher in die Kategorie Vorabend.

Ansonsten bringt der 563. Tatort aber fast alles mit, was einen guten (Kölner) Tatort ausmacht: Neben einer kultverdächtigen Handballsequenz, in der Freddy Schenk im BVB-Trikot das Tor hütet, sind da auch die starken Figuren und Darsteller, ein kniffliger Fall mit überraschender Auflösung und ein überzeugend filetiertes, gesellschaftliches Reizthema, das durch Schenks renitente Oma und die Überlastung von Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) in den Erfahrungen der Ermittler gespiegelt wird.

Der späteren Rostocker Polizeiruf-110-Kommissarin Anneke Kim Sarnau bietet das reichlich Spielraum zur Entfaltung – ob man ihrer Figur auch noch die Ehekrise mit dem ebenfalls als Pfleger tätigen Peter Riegelsberger (Frank Köbe, Das Nest) andichten musste, darf allerdings bezweifelt werden. Allein der unerfüllte, pausenlos thematisierte Kinderwunsch der beiden hätte Stoff für einen eigenen Tatort geboten – so wirkt die Geschichte doch etwas überfrachtet. Richten die Filmemacher den Blick hingegen ins Altenheim, entfaltet das Krimidrama seine Wucht und lässt uns trotz der kitschigen Schlusspointe mit keinem guten Gefühl zurück.

In den Jahren danach schlagen etwa der erstklassige Bremer Tatort Im toten Winkel, der sich der häuslichen Pflege widmet, oder der grandiose Stuttgarter Tatort Anne und der Tod, der eine verzweifelte Altenpflegerin in den Fokus rückt, thematisch in ähnliche Kerben – und man könnte fast meinen, in der Zeit dazwischen hätte sich mit Blick auf den Pflegenotstand in Deutschland gar nichts verändert. Wohl denen, die Menschen haben, die sich kümmern.


BALLAUF:
Wenn ich mich nicht mehr bewegen kann oder dement bin, dann gibst du mir eben die Spritze.

SCHENK:
Und wenn ich auch dement bin?

BALLAUF:
Dann haben wir'n Problem.


Bewertung: 7/10

Abschaum

Folge: 562 | 4. April 2004 | Sender: Radio Bremen | Regie: Thorsten Näter
Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

Höllisch. 

Die Leiche eines zwölfjährigen Mädchens, das von einem Hochhaus in den Tod gesprungen ist, weist eindeutige Spuren sexuellen Missbrauchs auf. Außerdem hatte das Kind eine rätselhafte Tätowierung auf der Hand. 

Die Bremer Hauptkommissare Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) sind bestürzt: Die Eltern des Mädchens, Bodo (Michael Lott, Im Abseits) und Sigrid Meinfeld (Martina Schiesser, Verlorene Töchter), geben sich wortkarg und ausflüchtig - und damit hochverdächtig. So rücken auch die ebenfalls auffälligen jüngeren Geschwister des toten Mädchens, Svenja (Luisa Sappelt) und Björn Meinfeld (Philip Stölken), in den Fokus der Ermittlungen, doch Kinderarzt und Lehrerin wiegeln ab: keine Auffälligkeiten und keine belastbaren Indizien, um schnell zu handeln. 

Zum Glück gibt es in der Plattenbausiedlung, in der die Familie lebt, noch ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung, in dem Lürsens Tochter Helen (Camilla Renschke) als Betreuerin aushilft: Das Heim fungiert zum einen als Blitzableiter für die besorgten Bürger aus der Nachbarschaft und ist zum anderen der heimliche Rückzugsort für Svenja. Bald hat der Mob einen Schuldigen auserkoren: den vermeintlich stummen Ex-Soldaten Harald Markwart (Hans-Uwe Bauer, Heimspiel). Unterschicht gegen Abschaum

Das Umfeld der Familie hingegen scheint bewusst zu schweigen, und so beschleicht die Ermittler ein ungutes Gefühl: Haben sie es mit einem Netzwerk zu tun? 

Während Lürsen ungeduldig wird und sich im Zorn dazu hinreißen lässt, den süffisanten Oberstaatsanwalt Mertens (Christoph Bantzer) am Schlawittchen zu packen, sucht der besonnenere Stedefreund nach der Bedeutung des kryptischen Zeichens. Von der stark verängstigten Bibliothekarin Karin Melzer (grandios: die 2009 verstorbene Monica Bleibtreu, Der Passagier) erfährt er ungeheuerliche Details über Netzwerke von Pädophilen, die sich als satanistische Zirkel tarnen und Verbrechen jenseits der Vorstellungskraft verüben. 

Ritueller Missbrauch und Menschenopfer mitten in Bremen – zu bizarr, um wahr zu sein?


MELZER: 
Das sind Sadisten. Die wollen verletzen. Leute mit Macht, Geld und genügend Einfluss, um sicherzustellen, dass nichts von dem, was sie tun, an die Öffentlichkeit dringt.


Abschaum ist bis heute der beste Tatort aus Bremen geblieben, denn er zeigt Missbrauch als machtvolles System, das auf dem erzwungenen Schweigen der Opfer fußt: Die Taten der Satanisten sind so grausam, dass den Opfern niemand glaubt. Während die anderen Figuren in quälender Sprachlosigkeit verharren, geraten die Ermittler immer stärker unter Druck. 

Trotz der brisanten Thematik tappt Regisseur und Drehbuchautor Thorsten Näter (Kalte Wut) in kein Fettnäpfchen und keine Klischeefalle. Die knallharten Gewaltszenen deutet er nur auf Zeichnungen oder in verzerrten Flashbacks der jungen Opfer an. 

Reduzierte Dialoge und Gesten lassen viel Raum für die Entfaltung der bedrohlichen Atmosphäre, in der auch die Kinder anmuten wie Untote: bleich, ohne Mimik, stumm – und wenn der wütende Mob mit aller Macht  die Behinderteneinrichtung stürmen will, kommt man sich fast vor wie in einem Zombiefilm

Mutti Lürsen bemüht sich derweil redlich um eine Beziehung zu der traumatisierten Svenja, die in einem anderen Universum festzustecken scheint. Mit großer schauspielerischer Leistung lässt die hochtalentierte Jungdarstellerin Luisa Sappelt allein mit schnellem Atem und starrem Blick das Ausmaß der grauenvollen Situation erahnen – es sind Szenen zum Wegsehen. Das Wiederfinden der Sprache wird schließlich zur Zerreißprobe im 562. Tatort: Als Melzer sich passenderweise mit Worten von Paul Celan verabschiedet, nimmt die Handlung Fahrt auf. 

Abschaum, dem die Dokumentationen Höllenleben von Liz Wieskerstrauch als Vorlage dienten, bietet einen kinoreifen Einblick in ein bis dahin in den Medien kaum verhandeltes Thema, wenngleich der Showdown mit Selbstjustiz und 14 Toten einigen zu viel war: Neben CSU-Politiker Peter Gauweiler ("Skandal") monierten 2004 auch Polizeiruf 110-Kollege Jaecki Schwarz ("grauslich und nicht notwendig") und Tatort-Ermittler Jan Josef Liefers ("blutrünstiges Zeug") den blutigen Ausgang des Krimis und entfachten so eine Debatte über Altersfreigaben und Gewaltdarstellungen im öffentlich-rechtlichen Fernsehen

Die stark verfremdeten Schlussszenen wirken emotional jedoch kaum so belastend wie der Missbrauch. Anerkennung für dessen realistische Darstellung gab es von Sektenbeauftragten und Betroffenen. Für den Zuschauer ist dieser Tatort nicht leicht zu ertragen, und er ist trotzdem – oder gerade deswegen – ein Meilenstein in der Geschichte der Krimireihe. 

Zurecht zeigte sich auch Hans-Dieter Heimendahl, der damalige Programmdirektor von Radio Bremen, von der Kritik unbeeindruckt: Man habe "nicht nur einen spannenden Krimi produziert, sondern ein gesellschaftlich wichtiges Thema angesprochen." Word.

Bewertung: 10/10

Schichtwechsel

Folge: 561 | 28. März 2004 | Sender: NDR | Regie: Christine Hartmann
Bild: NDR
So war der Tatort:

Nordisch unterkühlt – und doch alles andere als erfrischend

In Schichtwechsel ermittelt der neue Kieler Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) zwar fast die ganze Zeit vor der Kulisse traumhafter Ostsee-Panoramen und stets mit einer steifen Brise im Gesicht, erfüllt die Hoffnungen auf frischen Wind in der Krimireihe aber (noch) nicht. 

Christine Hartmann (Die Unmöglichkeit, sich den Tod vorzustellen), die 2004 zum ersten Mal für einen Tatort auf dem Regiestuhl Platz nimmt, inszeniert den zweiten Fall des eigenbrötlerischen Ermittlers zwar stimmig und schnörkellos, ist letztlich aber stets Gefangene des konventionellen Drehbuchs, das deutlich einfallsärmer und bodenständiger ausfällt als in Borowskis unterhaltsamem Erstling Väter

Jan van der Bank, der als langjähriger Drehbuchautor der Küstenwache an der Ostseeküste eigentlich voll in seinem Element sein dürfte, konzipiert einen klassischen Whodunit, bei dem die Hauptverdächtigen schnell ausgemacht sind: Neben einigen Werftangestellten, die vom Tod des Betriebsratssprechers Bruhns (Bruno Apitz, Tod auf dem Rhein) profitieren, und Werftleiter Felix Ostendorf (Felix Eitner, Tote Männer) geraten vor allem Ostendorfs opportunistische Sekretärin Tatjana Matthies (Stefanie Stappenbeck, Eine ehrliche Haut) und deren minderbemittelter Bruder Benno (Arndt Schwering-Sohnrey, Hinkebein) ins Visier der Ermittler. 

Man muss kein großer Prophet sein, um vorauszusehen, wer die zweite Leiche im Tatort sein wird, von der sich Borowski in einer merkwürdig gefühlsduseligen Szene auf einem Holzsteg verabschiedet. 

Dass Schichtwechsel trotz des präzise skizzierten Schiffsarbeiter-Milieus in Zeiten von Stellenabbau, Streiks und Werftschließungen nie wirklich auf Touren bekommt, liegt aber auch daran, dass die Chemie zwischen den beiden Ermittlern nicht stimmt: Wie schon in Väter wird Borowski von seinem Assistenten Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) unterstützt, der als Figur auch bei seinem zweiten Einsatz vollkommen profillos bleibt und den spröden Kieler Hauptkommissar nicht ansatzweise aus der Reserve zu locken vermag. Trauriger Höhepunkt dieses Auftritts ist der müde Gag um einen schwulen Türsteher, der ein Auge auf den knackigen Hintern von Borowskis Assistenten geworfen hat und prompt auf ein Techtelmechtel aus ist. 

Auf der Zielgeraden deutet sich dann folgerichtig an, was den Kieler Tatort der nächsten Jahre qualitativ erheblich aufwerten wird: Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert) fungiert in Zukunft nicht mehr nur als Borowskis Therapeutin und Flirt-Partnerin, sondern wird zunehmend in die aktuellen Ermittlungen eingebunden. Das erweist sich bereits im 561. Tatort als deutlich fruchtbarer für den Dialogwitz als die nervigen Kommentare Zainalows, der seine überflüssige Nebenrolle in der letzten Szene des Films unfreiwillig deutlich auf den Punkt bringt:


ZAINALOW: 
Verdammte Scheiße, und wer ist jetzt der Mörder?


Bewertung: 4/10

Heimspiel

Folge: 559 | 29. Februar 2004 | Sender: NDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Begegnungsreich. 

Heimspiel führt LKA-Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) nämlich zum ersten Mal in ihre Heimatstadt Lüneburg – in der sie nicht nur feststellen muss, dass ihre Mutter Annemarie (Kathrin Ackermann) ihr ehemaliges Kinderzimmer leergeräumt und das Interieur an die Nachbarskinder weitergereicht hat, sondern auch längst vergessene alte Schulfreunde und verflossene Liebhaber wiedertrifft. 

Während sie bei ihren Ermittlungen in den heiligen Hallen des Pharmakonzerns Gerlitz den Dinner-Einladungen des hartnäckigen Verehrers und Chefbuchhalters ("Lotte! Lotte! Lotte!") energisch widersteht, scheint Sicherheitschef Rolf Jacobi (Heikko Deutschmann, Eine ehrliche Haut) ihre Gefühle neu entflammen zu lassen – doch Heimkehrerin Lindholm zeigt sich verbittert, weil der gut aussehende Ex-Lover einst ohne Entschuldigung eine Verabredung platzen ließ. 

Der 559. Tatort steht damit exemplarisch für viele weitere Folgen aus Niedersachsen, in dem die blonde Hauptkommissarin reichlich Nebenkriegsschauplätze beackert und das Publikum ausgiebig an ihrem Privatleben teilhaben lässt. Da darf natürlich auch Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks) nicht fehlen: Der schwärmt von Mutter Lindholms Kochkünsten und hat diesmal die asiatische Schönheit Xu Jing bei sich einquartiert, die ihn auf eine Reise nach Hongkong vorbereiten soll. Dass der treue Martin in der eigenen WG auf der Couch übernachtet, während die langhaarige Sexbombe in seinem Bett schläft und seine Oberhemden trägt, versteht sich von selbst: Naujoks mimt weiterhin den ewigen Junggesellen, der beim Start des Flugzeugs einen vermeintlichen Herzanfall erleidet und noch auf dem Flughafen Hannover ans EKG angeschlossen wird.

Für den Zuschauer besteht die Gefahr einer Herzattacke weniger: Lindholms vierter Tatort-Einsatz, der trotz des sportlichen Krimititels mit Leibesübungen nicht das Geringste zu tun hat, treibt dem Publikum selten Schweißperlen auf die Stirn. Das liegt aber weniger daran, dass die obligatorische Auftaktleiche fehlt und somit kein Mörder gefasst werden muss, sondern vielmehr daran, dass Orkun Ertener (Väter) sein Drehbuch hoffnungslos mit privaten Störfeuern überfrachtet und jegliches Aufkommen von Spannung im Keim erstickt. 

Nach der von Regisseur Thomas Jauch (Alter Ego) durchaus flott inszenierten Auftaktsequenz, in der sich das Auto von Unternehmensleiter Klaus Gerlitz (Ernst Stötzner, Der schwarze Troll) und seinem Chauffeur mehrfach überschlägt, herrscht in Heimspiel gut eine Stunde Leerlauf: Revierstreitigkeiten hier, politische Aktivisten dort, alles ganz nett anzuschauen, aber selten wirklich fesselnd. Einzig die clever arrangierte Sauna-Entführung von Gerlitz bringt Dynamik in die Geschichte und führt zudem zu einer amüsanten Verfolgungsjagd, bei der sich zwei halbnackte Sicherheitsmänner in ein Parkhaus verirren und ihre bombenfest sitzenden Handtücher offenbar um die eigenen Hüften getackert haben. 

Und dann ist da noch die kettenrauchende Vor-Ort-Kollegin Belinda Uzman (Catrin Striebeck, Klassentreffen), die sich schon bei ihrem ersten Einsatz an der Seite von Lindholm (es folgen noch drei weitere in Atemnot, Das namenlose Mädchen und Salzleiche) für den Titel "unsympathischste Co-Ermittlerin der Tatort-Geschichte" bewirbt: Heimspiel hat viele Schwächen und ganz wenig Stärken. 

Immerhin: Zum großen Showdown gibt es eine Fahrt mit der legendären Holzachterbahn im nahegelegenen Heidepark Soltau. Schade, dass der Rest des Krimis nicht annähernd so rasant ausfällt.

Bewertung: 3/10

Waidmanns Heil

Folge: 557 | 1. Februar 2004 | Sender: MDR | Regie: Peter F. Bringmann
Bild: MDR/Hardy Spitz

So war der Tatort:


Jägerlateinisch. 

Hauptkommissar Bruno Ehrlicher (Peter Sodann) und sein vornamenloser Kollege Kain (Bernd Michael Lade) dürfen bei ihrem 32. gemeinsamen Einsatz nämlich raus aufs Land – genauer gesagt in einen Wald, in dem neben einigen abgeknallten Enten plötzlich auch ein mausetoter Jäger im Schilf liegt. 

Der Clou: Ein Dutzend Jägerkollegen ist in Waidmanns Heil – der Krimititel deutet es bereits an – gemeinsam auf die Jagd gegangen, alle mit ähnlichen Schrotflinten in der Hand, und viele von ihnen bringen ein plausibles Mordmotiv mit. Tolle Ausgangslage, denn so kann im Grunde jeder die tödlichen Schüsse abgefeuert haben – zumal angesichts der identischen Outfits in grüner Jagdmontur und orangefarbener Warnweste auch eine Verwechslung des Opfers nicht ausgeschlossen ist. 

Dass Ehrlicher und Kain schon bald reichlich Jägerlatein zu hören bekommen und der Zuschauer ganz nebenbei viel Lehrreiches über den Jagdsport erfährt, versteht sich von selbst: "Einen kapitalen Bock schießen" - Drehbuchautor Andreas Pflüger (Falsches Leben) pfeffert dem Zuschauer Redensarten, die vor allem von Fußballkommentatoren häufig zweckentfremdet werden, im 557. Tatort wie Schrotkugeln um die Ohren. 

Das gestaltet sich vor allem für das weniger jagdsportaffine Publikum interessant und hätte den müde ausgearbeiteten Nebenhandlungsstrang, in dem Kain mal eben seinen Jagdschein nachholen möchte, gar nicht nötig gemacht. Über den geheimnisumwitterten Vornamen des Kommissars verrät Ehrlicher im 557. Tatort übrigens ein interessantes Detail:


EHRLICHER:
Ich hab dich noch nie nach deinem Vornamen gefragt, aber der reimt sich ja auf...

KAIN: 
Spar dir den Witz, ich kenn ihn seit der Schulzeit.


Worauf mag er sich wohl reimen, der Vorname des Leipziger Ermittlers? Der Phantasie des Zuschauers sind keine Grenzen gesetzt. 

Auch bei der Frage nach Mörder und Motiv lassen Drehbuchautor Pflüger und Regisseur Peter F. Bringmann (Der dunkle Fleck) ihr Publikum bis zum Schluss miträtseln: Deutet zunächst noch alles auf den bankrotten Jäger Gernot Dietz (gewohnt stark: Christian Redl, Tödliche Ermittlungen) hin, liefert das Drehbuch in Waidmanns Heil nach und nach zahlreiche ernstzunehmende Alternativen, weil die gleichermaßen umtriebige wie vollbusige Simone Körner (nackt: Isabella Jantz) gleich mehrere Männer zur Verzweiflung treibt, plötzlich eine zweite Leiche zu beklagen ist und Karsten Dietz (unauffällig: Thomas Sarbacher, Skalpell) seinem hitzköpfigen Bruder kurzerhand Ehefrau Marion (eher schwach: Antje Schmidt, Manila) ausspannt. 

Zeit für gute deutsche Küche bei Frederike (Annekathrin Bürger) finden die ersten ostdeutschen Kommissare der Tatort-Geschichte natürlich trotzdem – und Ehrlicher sogar einen freien Abend für einen gemeinsamen Konzertbesuch mit der Gastwirtin. Einfach köstlich, wie sein ungeduldig klingelndes Handy harmonisch in die eher gewöhnungsbedürftigen Klänge auf der Bühne einstimmt.

Bewertung: 8/10

Bitteres Brot

Folge: 555 | 18. Januar 2004 | Sender: SWR | Regie: Jürgen Bretzinger
Bild: SWR/Hollenbach

So war der Tatort:

Staubig. 

Große Teile von Bitteres Brot – der Krimititel deutet es bereits an – spielen nämlich in den Arbeitsräumen einer Backstube, in denen es so lecker nach Brötchen duftet, dass sich die Konstanzer Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes) den Duft am liebsten als Parfum zulegen würde. Doch damit nicht genug: Die dünne Mehlschicht auf dem Fußboden, die sich bis in die Kellerräume erstreckt, liefert der Ermittlerin den entscheidenden Hinweis auf den Hauptverdächtigen, weil dieser verräterische Sohlenabdrücke am Tatort hinterlässt. 

In Zeiten von High-Tech-Profiling und akribischen DNA-Analysen eine angenehme Rückkehr zu den Wurzeln der guten alten Detektivarbeit, wenngleich es Drehbuchautorin Dorothee Schön (Der Wald steht schwarz und schweiget) am Ende mit dem Spurenlesen ein wenig übertreibt. Dafür konstruiert die Filmemacherin gleich zwei geniale, herrlich diabolische Todesfallen: Den Backofen, der sich von innen nicht öffnen lässt und das erste Mordopfer bei über 200 Grad röstet, und einen Mehlspeicher, der beim Showdown zum nicht minder gefährlichen Gefängnis wird. 

Ganz nebenbei lernt der Zuschauer auch noch den Unterschied zwischen Qualitätsmehl und dem billigen Pulver, das in Großbetrieben verwendet wird – der obligatorische Seitenhieb auf die Backindustrie und das Aussterben kleiner Handwerksbetriebe bleibt natürlich nicht aus.

Sehenswert ist der von Regisseur Jürgen Bretzinger (Undercover Camping) inszenierte 555. Tatort aber nicht nur aufgrund seines interessanten Schauplatzes und der Tatsache, dass Klara Blum zum ersten Mal Seite an Seite mit ihrem neuen Kollegen Kai Perlmann (Sebastian Bezzel, zuvor bereits in einer winzigen Rolle im Münchener Tatort Norbert zu sehen) ermittelt: Mit von der Partie ist auch die großartige Julia Jentsch, die zum ersten und bis heute letzten Mal in einem Tatort zu sehen ist. 

Wenige Monate vor ihrem Leinwanddurchbruch mit Die fetten Jahre sind vorbei und ihrer herausragenden Performance in Sophie Scholl - Die letzten Tage spielt sich der spätere Theater- und Arthouse-Star in der Rolle der misshandelten Johanna Kemmerlang nachhaltig in den Vordergrund und glänzt vor allem in den emotionalen Gesprächen mit Blum, der sie unter Tränen ihr Herz ausschüttet. 

Da mit dem gerade aus der Haft entlassenen Vater Eberhard Kemmerlang (Ulrich Gebauer, Der Finger) nur ein einziger Verdächtiger wirklich als Mörder in Frage kommt, dreht sich bald alles um die Frage: War er es wirklich oder hat seine Tochter alles nur inszeniert? Bis zum spannenden Finale kann sich der Zuschauer nie ganz sicher sein, ob er nicht auf eine große Lügengeschichte hereinzufallen droht. 

Das macht Bitteres Brot zu einem vergleichsweise einfach gestrickten, aber sehr unterhaltsamen Tatort, bei dem sich die verwitwete Blum, die schmachtende Annika "Beckchen" Beck (Justine Hauer) und der hobbygolfende Junggeselle Perlmann einleitend ein wenig beschnuppern und frotzeln dürfen.

Bewertung: 7/10

Eine ehrliche Haut

Folge: 554 | 4. Januar 2004 | Sender: rbb | Regie: Ralph Bohn
Bild: ARD Degeto/RBB
So war der Tatort:

Unparteiisch. Denn obwohl der federführende rbb in Eine ehrliche Haut zum Auftakt gleich mal live in eine Gesprächsrunde der damaligen Talkshow-Queen Sabine Christiansen schaltet und die beiden ambitionierten Politiker Manfred Körner (Heikko Deutschmann, Tödlicher Einsatz) und Heinrich Paulsen (Dietrich Mattausch, Haie vor Helgoland) vor laufender Kamera aufeinander loslässt, vermeidet es der Sender doch akribisch, die parteipolitische Zugehörigkeit der beiden rivalisierenden Spitzenkandidaten für den Parteivorsitz in irgendeiner Form anzudeuten oder gar zu formulieren. 

Trotz der Gastauftritte von CDU-Politiker Laurenz Mayer und Rezzo Schlauch von Bündnis 90/Die Grünen will man als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt natürlich keine Stellung beziehen – und eine fiktive Partei wäre ja schließlich noch viel lächerlicher. Dennoch wirken dadurch sowohl die einleitende Talkrunde als auch die spätere Berichterstattung in ohnehin wenig authentischen TV-Formaten mit Titeln wie "news update" arg gekünstelt. 

Eine schwere Bürde, die dem 554. Tatort auferlegt wird, doch die politische Neutralität birgt einen großen Vorteil: Regisseur und Drehbuchautor Ralph Bohn (Filmriss) kann mit Manfred Körner einen echten Ausnahme-Politiker installieren. Eine ehrliche Haut nämlich, mit der der Zuschauer unabhängig von der eigenen politischen Gesinnung mitfiebern kann. Paulsen hingegen verkörpert als fieser Machtmensch das genaue Gegenstück und verstärkt die Sympathien für den aufrichtigen Körner entsprechend.

Dass in einer Tatort-Episode mal nicht die beiden Kommissare die Identifikationsfiguren sind, ist zwar ziemlich gewöhnungsbedürftig, funktioniert aber über weite Strecken prima: Fast wünscht man sich als Zuschauer, die Berliner Hauptkommissare Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic) würden dem unvermittelt unter Mordverdacht stehenden Moralmenschen Körner früher zur Seite springen, als ihm permanent kritisch auf den Zahn zu fühlen ("Sollen wir ihn mit Samthandschuhen anfassen, nur weil er ein Politiker ist?"). 

Von der eigenen Partnerin Judith Klee (Stefanie Stappenbeck, Willkommen in Hamburg) hintergangen, von den sensationsgeilen Medien vorgeführt, von den Parteikollegen mit Verachtung gestraft: Der unschuldige Körner kann einem fast leid tun. Unter dem Strich trägt Bohn aber ein wenig zu dick auf, als dass seine Figur wirklich glaubhaft ausfiele; ein wenig Dreck am Stecken hätte selbst dem aufstrebenden Jungpolitiker gut zu Gesicht gestanden. 

Auch die kriminellen Jugendlichen um Drogendealer Natho (Toni Snétberger, Bienzle und der Todesschrei) erschöpfen sich in überzeichneten Stereotypen, wenngleich sie nicht ganz so peinlich ausfallen wie zum Beispiel in der unterirdischen Odenthal-Folge Der Wald steht schwarz und schweiget oder dem späteren Berliner Tatort Dinge, die noch zu tun sind. Die Auflösung hingegen gefällt: Manchmal ist eben alles viel simpler, als es anfangs aussieht.

Bewertung: 6/10