Märchenwald

Folge: 576 | 24. Oktober 2004 | Sender: NDR | Regie: Christiane Balthasar
Bild: NDR/Christine Schroeder
So war der Tatort:

Märchenreich.

Denn der pfiffige Krimititel ist in diesem Tatort Programm: Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) verschlägt es bei ihrem fünften Einsatz in ein Waldstück nahe des fiktiven Örtchens Lengsfeld, das südlich von Hameln angesiedelt ist – ein Förster hat dort eine Leiche gefunden und bei der Suche nach dem Mörder bekommt die niedersächsische LKA-Kommissarin erwartungsgemäß nicht nur die Wahrheit, sondern auch jede Menge Märchen und Halbwahrheiten aufgetischt.

Die Ausgangslage in Märchenwald könnte für einen Tatort aus Niedersachsen damit klassischer kaum ausfallen: Ein einleitender Anruf des Vorgesetzten, die übliche Autofahrt von Hannover in die Provinz und das Einquartieren in der einzigen Gastwirtschaft eines kleinen Dorfes – all das gab es in den Krimis mit Lindholm bereits zu sehen und wird vom federführenden NDR im Jahr 2004 immer fester als Markenzeichen der Folgen mit Charlotte Lindholm etabliert.

Auch der vor Ort zuständige Dorfpolizist, der kognitiv nicht mit der cleveren Ermittlerin aus der Großstadt mithalten kann, ist fester Bestandteil dieses Konzepts: Hier ist es der sympathische Hobby-Astrologe Karl Mertens (Charly Hübner, übernimmt 2010 als Polizeiruf 110-Kommissar Alexander Bukow die Rolle seines Lebens). Mertens schaut zu Lindholm auf, tanzt nach ihrer Pfeife und ist stets darum bemüht, dass es ihr an nichts mangelt.

Doch da ist noch jemand, dem die alleinstehende Kommissarin in diesem Krimi zum ersten Mal begegnet: Märchenwald ist auch das Tatort-Debüt von Tobias Endres (Hannes Jaenicke, Die Liebe der Schlachter), der Lindholm zunächst mit Komplimenten umgarnt, ehe er sie bei einer Flasche Rotwein verführt und noch in zwei weiteren Folgen aus Niedersachsen zu sehen ist.


LINDHOLM:
Ist Ihnen sonst irgendetwas aufgefallen?

ENDRES:
Außer Ihnen? Nichts, nein.


Anders als andere Drehbuchautoren – wir denken an Lindholm-Fälle wie Schwarze Tiger, weiße Löwen – begehen Orkun Ertener (Väter) und Martina Mouchot (Pauline) allerdings nicht den Fehler, den Kriminalfall mit dieser spannungsarmen Liaison zu erdrücken: Das erste Date, für das sich Lindholm zu den Klängen von Baby Love binnen Sekunden aus einem Schlafanzug in angemessenere Garderobe wirft, wird durch die plötzliche Müdigkeit ihres Verehrers ironisch aufgebrochen und läuft dadurch nicht Gefahr, in den Kitsch abzudriften.

Auch sonst tragen die Filmemacher im Hinblick auf die Tatverdächtigen wohldosierter auf als in manch anderer Folge aus Niedersachsen: Kamen die Dorfbewohner im enttäuschenden Vorvorvorgänger Hexentanz noch als übertrieben engstirnige Hinterwäldler daher, sind sie hier stärker in der Realität verortet. Da werden fortschrittlich denkende Zugezogene wie der aus Ostdeutschland stammende Waldbesitzer Werner Freden (Michael Wittenborn, Herrenabend) zwar mit Argwohn betrachtet, aber nicht partout verteufelt.

Mit dem überzeichneten Landei Walter Gramisch (Felix Vörtler, ...es wird Trauer sein und Schmerz), das sein monatliches Einkommen am liebsten in Hamelns Bordellen verjubelt, gibt es im 576. Tatort lediglich ein Klischee auf zwei Beinen – seine kleinkriminellen Machenschaften sind außerdem ein sicheres Indiz dafür, dass er im Hinblick auf die Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion als Täter ausscheidet. Den Mörder unter dem halben Dutzend Tatverdächtiger vor Minute 60 vorauszusagen, gestaltet sich dennoch angenehm knifflig.

So ist Märchenwald unterm Strich ein sehr klassisch arrangierter, von Regisseurin Christiane Balthasar (Mördergrube) routiniert in Szene gesetzter und geradliniger Tatort, der selten langweilt und sogar mit Anleihen aus dem Rühmann-Klassiker Es geschah am hellichten Tag aufwartet (vgl. die einleitende Begegnung im Wald und die Kinderzeichnung). Und er weiß einen heimlichen Publikumsliebling in seinen Reihen, dem man noch mehr Zeit vor der Kamera gewünscht hätte: Die joggende Frau Behrendt (Hannelore Lübeck, Requiem), die "Frau Lindwurm"  bei einer kurzweiligen Plauderstunde ungefragt Rum in den Tee kippt und später ihrem Mitbewohner ein Quartier bietet, stiehlt einfach jede Szene.

Für Martin Felser (Ingo Naujoks), der nach einem ominösen Chinatrip erst mit Verspätung in die Provinz reist und selbst kaum zu wissen scheint, was er dort eigentlich soll, gilt das freilich nicht: Schon nach fünf Auftritten scheint dem NDR zu dieser Figur, die auch später nur noch für mahnende Worte und fürs Babysitten da ist (vgl. Vergessene Erinnerung), nicht mehr viel einzufallen – und weil Lindholm ab sofort in den Armen von Tobias Endres bestens aufgehoben scheint, deutet sich Felsers Schicksal als fünftes Rad am Wagen bereits an.

Bewertung: 6/10

Herzversagen

Folge: 575 | 17. Oktober 2004 | Sender: HR | Regie: Thomas Freundner
Bild: HR/Bettina Müller
So war der Tatort:

Tränenreich. 

Denn beim fünften Einsatz der Frankfurter Hauptkommissare Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) wird das Weinen der mental gebeutelten Ermittler endgültig zum Markenzeichen der Krimis vom Main: Während die nah am Wasser gebaute Sänger bei fast jedem ihrer Einsätze früher oder später mit den Tränen kämpft und weiterhin am Tod ihrer brutal ermordeten Eltern zu knapsen hat, bringt das teilnahmslose Geständnis des Täters diesmal sogar ihren Kollegen zum Schluchzen. 

Doch Herzversagen ist kein rührseliger Krimi, bei dem die Filmemacher mit billigen Tricks auf die Tränendrüse drücken: Die hohe Intensität dieses vielgelobten Films resultiert aus der gekonnten Einbindung der Kommissare in die Geschichte und der großen Empathie, die sie den ergrauten Opfern entgegenbringen. 

Im neunten Tatort von Regisseur Thomas Freundner (Väter), der gemeinsam mit Stephan Falk (Kassensturz) auch das Drehbuch schrieb, wird der Zuschauer ohne jeden Kitsch in eine Welt entführt, für die er sich normalerweise kaum interessiert. "Wir sind die Armee der Unsichtbaren", verrät eine namenlose alte Dame (Christel Peters, Das ewig Böse) Dellwo bei dessen Nachforschungen in einem Supermarkt – und spielt damit auf die öffentliche Nicht-Wahrnehmung alleinstehender Rentnerinnen an, die in ihren Wohnungen ein vereinsamtes Dasein fristen und sich etwas tagelang darauf freuen können, dass der junge Mann vom Lesezirkel (Jan Henrik Stahlberg, Schneetreiben) eine neue Zeitschrift bringt. 

Auch die Ermittler verschlägt es einleitend in zwei dieser Wohnungen: Während Sänger beim Notar noch den Nachlass ihrer Eltern regelt und sich bei der verstorbenen Elisabeth Anuschek (Ein Herz und eine Seele-Legende Elisabeth Wiedemann, Das Zittern der Tenöre) mehr schlecht als recht von den Assistenten Ina Springstub (Chrissy Schulz) und Kruschke (Oliver Bootz) vertreten lässt, jagt Dellwo einen Handtaschenräuber durch Frankfurt und landet über Umwege in der Wohnung einer Frau, die bereits seit einem Jahr tot in ihrem Sessel hockt. Psycho lässt grüßen.

Wie im thematisch ähnlich gelagerten, herausragenden Berliner Tatort Hitchcock und Frau Wernicke schlagen die Filmemacher hier die Brücke zum Master of Suspense – doch anders als in Alfred Hitchcocks Meisterwerk mit Anthony Perkins vermoderte die alte Dame nicht einem abgelegenen Motel, sondern in einem Mietshaus mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel. Das heißt aber nicht, dass man sie dort wahrgenommen hätte: Kein einziger Nachbar will bemerkt haben, dass die Tote ihre Wohnung seit fast einem Jahr nicht mehr verlassen hat. 

Auch wenn Dellwos einleitende Junkie-Jagd an den Ort des Geschehens etwas überkonstruiert wirkt, bildet der Fund der dehydrierten Rentnerin doch einen stimmungsvollen und gruseligen Einstieg in einen Tatort, der ansonsten eher selten mit Spannungsmomenten aufwartet: Herzversagen, der 2005 mit dem Adolf Grimme-Preis ausgezeichnet wurde, ist vielmehr eine bedrückende Sozialstudie als ein packender Krimi, dank der starken Besetzung und der beklemmenden Geschichte aber zu keiner Minute langweilig. 

Je tiefer Sänger und Dellwo in die Welt der "Unsichtbaren" eindringen, desto stärker geht der 575. Tatort an die Nieren: Wahnsinnig rührend und herausragend gespielt ist zum Beispiel Sängers Besuch bei der dementen Frau Kleinschmidt (Edeltraud Schubert, Gesang der toten Dinge), die die Kommissarin bei der Suche nach ihrem Gebiss um Hilfe bittet und ihr Gesicht schon am nächsten Tag wieder vergessen hat. 

Als Whodunit funktioniert der fünfte Fall von Sänger und Dellwo aber nur bedingt: Mit dem gelernten Kürschnermeister Alexander Nilgens (Friedrich Schoenfelder) und Junkie Jörg "Jerry" Pahlke (Henning Peker, Waidmanns Heil) legen die Filmemacher zwar gleich zwei falsche Fährten, doch ist der Zuschauer bei der Suche nach der richtigen Auflösung letztlich chancenlos, weil dem Täter nur eine einzige Sequenz gewidmet ist. 

Die etwas zu knappe Abhandlung des erschütternden Schlussakkords ist zugleich die einzige kleine Schwäche einer ansonsten überragenden und zutiefst traurig stimmenden Tatort-Folge aus Frankfurt, die bis heute eine der stärksten aus Hessen ist.

Bewertung: 9/10

Stirb und werde

Folge: 574 | 10. Oktober 2004 | Sender: NDR | Regie: Claudia Garde
Bild: NDR/Marlies Henke

So war der Tatort:

Thanatologisch.

Inspiriert von der griechischen Mythologie, bekommt es Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) bei seinem dritten Einsatz für die Krimireihe nämlich mit einem ebenso außergewöhnlichen wie ebenbürtigem Serienmörder zu tun. Dessen kryptisch anmutende Taten erfordern erneut die Unterstützung von Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert), verlangen aber auch dem namenlosen und nur in dieser einen Folge auftretenden Kieler Rechtsmediziner (Robert Meller, Der König der Gosse) sein ganzes Können ab.

Bereits der Auftakt der 574. Tatort-Folge gestaltet sich für ihn und uns ziemlich rätselhaft: Eine Gruppe von Musikschülerinnen findet beim Betreten eines Konzertsaals gemeinsam mit ihrer Lehrerin die Leiche eines Mädchens, das festlich gekleidet an einem schwarzen Flügel sitzt. Zunächst scheint niemand die Tote zu kennen – und auch der erwähnte Pathologe wird nicht so recht schlau aus ihr.


BOROWSKI:
Und?

RECHTSMEDIZINER:
Keine Ahnung. Keine Spuren äußerer Gewaltanwendung. Keine charakteristischen Krankheitssymptome. Kein klarer Hinweis auf eine Intoxikation. Keine Ahnung.

BOROWSKI:
Zeitpunkt des Todes?

RECHTSMEDIZINER:
Keine Ahnung.


Der ungeduldige Borowski, dem im 574. Tatort erneut der stets bemühte, aber ungeschickt agierende Oberkommissar  Alim Zainalow (Mehdi Moinzadeh) zur Seite steht, ist dennoch bald im Bilde: Thanatopraxie – abgeleitet von Thanatos, dem Gott des sanften Todes – ist die ästhetisch und hygienisch einwandfreie Aufbahrung von Verstorbenen. Will heißen: Die Tote wurde einbalsamiert. Und sie bleibt nicht die einzige. Doch wer tut so etwas – und warum?

Das Drehbuch von Orkun Ertener, der bereits beim Borowski-Erstling Väter federführend war, sieht vor, dass wir  von Beginn an um das "wer" wissen. Dieses Konzept, das in den folgenden Jahren noch viele weitere Krimis von der Förde auszeichnet, erweist sich auch diesmal unter Regie von Claudia Garde (Borowski in der Unterwelt) als reizvoll. Das Handeln des umsichtig und strukturiert agiereden Stefan Gärtner (stark: Matthias Brandt, Absturz) ist uns stets präsent, ohne dass wir bezüglich seines Motivs einen Wissensvorsprung genießen. Wir sehen ihn als fürsorglichen Ehemann an der Seite seiner schwangeren Frau Andrea (Anna Thalbach, Absolute Diskretion), zum anderen bei der Vorbereitung seiner Taten. Was ihn antreibt, darüber lässt uns der als Whydunit startende Film, der sich auf der Zielgeraden zum Howcatchem wandelt, aber lange im Dunkeln.

Auch das Geschehen im Präsidium hat Einiges zu bieten – allem voran den diesmal nicht nur psychisch, sondern auch physisch angeschlagenen Borowski, dessen linker Arm schmerzt und dem sein Vorgesetzter Roland Schladitz (Thomas Kügel) den Urlaub mit Tochter Carla (Neelam Schlemminger, Sternenkinder) verwehrt. Das sorgt für dicke Luft und wunderbar knackige Dialoge. Die Vater-Tochter-Beziehung hingegen, die bereits in Väter ausführlich illustriert wurde, erfährt hier nur indirekt eine Fortsetzung, da die gerade eingetroffene Carla ihren verdutzten Papa einfach am Bahngleis stehen lässt und direkt wieder in den Zug nach Hause steigt. Eine bewegende Szene, die auch am nach außen meist so gefasst wirkenden Borowski nicht spurlos vorbeigeht. 

Der Kieler Kriminalist raunzt Kollegen und Zeugen an, verliert die Beherrschung und lässt sich beim dramatischen Showdown am Containerhafen sogar zu einer waghalsigen und sicher nicht den Vorschriften entsprechenden Alles-oder-nichts-Aktion hinreißen. Der schwedische Kultkommissar Kurt Wallander lässt grüßen! Und selbst die sympathisch-offenherzige Altenpflegerin Iris (Solveig Arnarsdottir), die Borowski beim Seniorentänzchen befragt, vermag mit ihrem Charme das Herz des kauzigen Kommissars nicht zu erweichen. Beim naiven Zainalow hat es die Damenwelt leichter: Sein Techtelmechtel mit der attraktiven und (natürlich!) sensationslüsternen Klischee-Journalistin Anke Rudolf (Tamara Simunovic, Der schwarze Ritter) nervt gewaltig und knüpft damit nahtlos an seinen unglücklichen Auftritt im enttäuschenden Vorgänger Schichtwechsel an.

Stirb und werde, dessen Titel auf einen Vers aus Goethes Gedicht Selige Sehnsucht verweist, weiß da unterm Strich schon eher zu gefallen – auch wenn die Spannung lange Zeit spärlich dosiert ist und es an psychologischer Tiefe bezüglich des Täters mangelt. Insbesondere die wirkungsvollen Bilder, die authentischen Dialoge und der überzeugende Cast entschädigen dafür. Zur Besetzung zählt übrigens auch die zum Zeitpunkt der Erstausstrahlung noch eher unbekannte Lavinia Wilson, die bei einem Kurzauftritt als Schwester des ersten Opfers zu sehen ist und sich an Borowskis Schulter ausweinen darf. 

Apropos:


JUNG:
Wie geht es Ihnen?

BOROWSKI:
Ich kann nicht klagen.

JUNG:
Nein, können Sie nicht.


Bewertung: 6/10