Auf der Sonnenseite

Folge: 709 | 26. Oktober 2008 | Sender: NDR | Regie: Richard Huber
Bild: NDR/Georges Pauly
So war der Tatort:

Revolutionär.

Denn der federführende NDR präsentiert dem verdutzten Tatort-Stammpublikum 2008 einen Ermittler, der der Gesamtreihe gleich in mehrerer Hinsicht den ausgestreckten Mittelfinger zeigt: Cenk Batu, verkörpert vom leinwanderprobten Mehmet Kurtulus (Wem Ehre gebührt), ist nicht nur der erste Undercover-Mann in der Geschichte der Reihe, sondern zugleich der erste Ermittler mit türkischem Migrationshintergrund.

Und damit nicht genug: Der NDR pfeift auf das für den Tatort existenzielle Whodunit-Prinzip, schickt den charismatischen Batu, der von seinem Vorgesetzten Kohnau (Martin Jordan) nomadenhaft in komplett eingerichteten Mietwohnungen einquartiert wird, bei seinem ersten Einsatz ohne Auftaktmord ins Rennen und orientiert sich eher am Spionagefilm als an den eingefahrenen Sonntagabend-Prinzipien.

Das wurde zu Recht belohnt: Auf der Sonnenseite wurde 2009 nicht nur für die Goldene Kamera in der Kategorie "Bester Fernsehfilm" nominiert, sondern auch mit dem Adolf-Grimme-Preis ausgezeichnet. Kameramann Martin Langer erhielt den Deutschen Fernsehpreis. Von den Kritikern gefeiert, hat Cenk Batu dennoch von Anfang an ein Problem – er fällt bei den Zuschauern durch und stürzt die ARD am Sonntagabend regelmäßig ins Quotentief.

An der Qualität seines Debüt-Tatorts liegt das freilich nicht: Regisseur Richard Huber (Vergissmeinnicht) arrangiert Auf der Sonnenseite clever und vor allem auf der Zielgeraden hochspannend.

Batus erster Einsatz ist kultverdächtig: Allein die regelmäßigen Treffen mit Kohnau, der wahlweise in der Barmbeker U-Bahn, der Umkleidekabine eines Schwimmbads oder zwischen Hafencontainern von seinem Undercover-Schützling auf den neuesten Stand gebracht wird, mutieren in Rekordzeit zum Running Gag.

Wie sehr die beiden Kollegen, die zwischendurch auch noch fleißig mit Vorurteilen aufräumen, voneinander abhängig sind, offenbart sich spätestens beim geschickt angelegten Showdown: Kohnau ist in seinem Überwachungswagen zwar über alles informiert, aber machtlos zum Zuschauen verurteilt.

Und wird wie das Fernsehpublikum Zeuge dessen, dass der Tatort auch 2008 noch zu überraschen vermag.


KOHNAU:
Ich dachte immer, ihr Türken haltet zusammen? 

BATU:
Bei Fußball und Eurovision vielleicht.


Bewertung: 10/10

Borowski und die einsamen Herzen

Folge: 707 | 12. Oktober 2008 | Sender: NDR | Regie: Lars Jessen
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Jung-gesellig.

Der Auftakt dieses Krimis aus dem hohen Norden ist nämlich Programm, schmettert uns doch nach dem obligatorischen Tatort-Intro direkt Dean Martins "You're nobody till somebody loves you" entgegen. Passend dazu sehen wir ein sich küssendes Paar vor strahlend blauem Himmel, einen Luftballon in Herzform, unbekümmert fröhliche Menschen in Straßencafés – und fragen uns: Ist das wirklich ein Tatort aus Kiel?

Es ist tatsächlich einer. Und doch bieten Regisseur Lars Jessen (Die chinesische Prinzessin) und Drehbuchautor Thomas Schwank, die beide ihr Debüt in der Krimireihe geben, diesmal ohne Frage ein ziemliches Kontrastprogramm. Ruft man sich frühere Beiträge mit dem kauzigen und oft wortkargen Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) in Erinnerung – etwa den Vorgänger und Meilenstein Borowski und das Mädchen im Moor, der beispielhaft für die oft düster und makaber arrangierten Krimis von der Förde steht – ist die seicht inszenierte und beschwingt-heiter daherkommende erste Filmhälfte von Borowski und die einsamen Herzen gewöhnungsbedürftig.

Dabei geht in Kiel ein/e Serientäter/in um: Zwei alleinstehende Männer mittleren Alters wurden auf nahezu identische Weise mit einem Faustmesser getötet, wie Kriminaltechniker Ernst Klee (Jan Peter Heyne) schnell erkennt. Und noch eine Gemeinsamkeit lässt sich ausmachen: Beide suchten per Chiffre-Anzeige im "Kieler Boten" eine Partnerin. Die Befragungen des Möchtegern-Frauenhelden Küster (Mathias Herrmann, Der schwarze Troll) führen allerdings ebenso wenig weiter wie ein Besuch beim jugendlichen Messerverkäufer Marcel Günter (Dennis Prinz). Und so wird der seit Jahren von seiner Frau geschiedene Junggeselle Borowski vom besorgten Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) kurzerhand mit einer neuen Identität ausgestattet und undercover in die Kieler Single-Szene geschickt. Nach Meinung von Polizeipsychologin Frieda Jung (Maren Eggert) passt er als "Durchschnittsmann" perfekt ins Opferprofil.

Das ist Ermittlungsarbeit – und auch Borowski selbst – mal ganz anders. Unter dem Decknamen "Peter Berger" darf (oder muss) der etwas steife Kommissar in einem Hafencafé nicht nur seinen Charme spielen lassen, sondern auch seine Wirkung auf das weibliche Geschlecht testen. Das klappt mal mehr, mal weniger gut, ist aber dank Milbergs nuanciertem Spiel ungemein unterhaltsam und sorgt gerade in Verbindung mit der sachlich-analytischen und stets etwas zugeknöpften Frieda Jung für zahlreiche pointierte Wortwechsel.


BOROWSKI:
Ich habe keine Lust, immer nur als Lustobjekt zu dienen.

JUNG:
Sie bekommen jetzt Wasser statt Kaffee. Sonst hält ihr Herz das nicht aus.

BOROWSKI:
Mein Herz muss noch mit ganz anderen Dingen fertig werden.


Die ironisch-doppeldeutigen Dialoge treffen wie gewohnt ins Schwarze und zählen ohne Frage zu den Highlights dieser Folge. Für die Figurenentwicklung sind diese Momente Gold wert, es menschelt und knistert zwischen zwischen Borowski und Jung wie selten zuvor, auch wenn sich die Psychologin die eine oder andere Spitze nicht verkneifen kann. Da hätte es die seltsam kitschigen Tagträume des Kommissars nicht gebraucht: Sie lassen den Film auf einem schmalen Grat zur Parodie wandeln.

Doch so gerne man den beiden zusieht und so vergnüglich sich das Ganze gestaltet, ein Wermutstropfen bleibt: Der Kriminalfall gerät aus dem Fokus und kommt erst nach einer knappen Stunde in Bewegung. Unter den weiblichen Singles erregt besonders die selbstbewusste und mit allen Wassern gewaschene Gundula Beck (Gabriela Maria Schmeide, Die Wiederkehr) Borowskis Interesse. Sie kommt im Vergleich zu ihrer schüchternen Freundin Anne Schilling (Astrid Meyerfeldt, Krumme Hunde) bei den Männern deutlich besser an. Das ist besonders ihrem Ex-Mann Jan Petersen (Wolfram Koch, ab 2015 als Hauptkommissar Paul Brix im Frankfurter Tatort im Einsatz) ein Dorn im Auge.

Spannung will sich erst in der zweiten Filmhälfte einstellen, wenn sich der 707. Tatort in gewohnte Fahrwasser begibt und Borowski wieder in seiner eigentlichen Berufung agieren darf. Die Täterfrage stellt geübte Tatort-Fans zu diesem Zeitpunkt allerdings vor kein allzu großes Rätsel mehr und auch der finale Showdown wirkt eher ungewollt komisch als wirklich fesselnd.

So geht Borowski und die einsamen Herzen als sehenswerter, aber angesichts der eher flachen Spannungskurve und schlichten Handlung nicht ganz überzeugender Fall in die Tatort-Annalen ein. Daran ändert auch die Mitwirkung von Tatort-Stammgast Peter Jordan, der von 2008 bis 2012 im Hamburger Tatort Cenk Batus Vorgesetzten Uwe Krohnau mimte, nichts: Jordan mimt den Anzeigenleiter des Kieler Boten und hat sein Herzblatt im realen Leben schon Ende der 90er Jahre gefunden. Es ist Maren Eggert.

Bewertung: 6/10

Der glückliche Tod

Folge: 706 | 5. Oktober 2008 | Sender: SWR | Regie: Aelrun Goette
Bild: SWR/Krause-Burberg
So war der Tatort:

Todtraurig.

Damit steht Der glückliche Tod inhaltlich ganz bewusst im krassen Gegensatz zu seinem vermeintlich harmonischen Titel, der in typischer Ludwigshafen-Manier eine gesellschaftliche Problematik aufgreift, die seit Jahrzehnten emotional diskutiert und in europäischen Nachbarländern anders praktiziert wird als in der Bundesrepublik: die Sterbehilfe.

In der Schweiz und in den Niederlanden sei sie legal, wird der Zuschauer gleich zum Einstieg von den Hauptkommissaren Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) und Mario Kopper (Andreas Hoppe) mit dem nötigen Basiswissen versorgt, um in der Folge zu verstehen, wie das für eine Sterbehilfe-Organisation arbeitende Mordopfer überhaupt in den Besitz der tödlichen Medikamente gelangen konnte, die man in den Taschen der Wasserleiche am Rheinufer findet.

Fast zwangsläufig passiert in der Folge dann das, was schon vielen sozial- und gesellschaftskritischen Tatort-Folgen das Genick gebrochen hat: Kriminalhandlung und Täterfrage kommen zu kurz.

Verdächtige gibt es zwar ein halbes Dutzend, doch wenn mit der einmal mehr überragend aufspielenden Susanne Lothar (Der Teufel vom Berg) und dem kaum weniger begeisternden Frank Giering (Blick in den Abgrund) zwei Top-Schauspieler der deutschen TV-Landschaft zum Cast zählen, kann wieder mal die Uhr danach gestellt werden, dass einer der beiden am Ende den Mörder mimt. Dass die beiden nur wenige Jahre nach der Erstausstrahlung des Tatorts viel zu früh verstarben, verleiht dem Sterbehilfe-Krimi im Nachhinein fast einen grotesken Charakter.

Regisseurin Aelrun Goette und Drehbuchautor André Georgi (Fette Hunde) erzählen eine Geschichte, die eigentlich alles mitbringt, um zumindest als berührendes Drama zu punkten – dass dies trotz erzählerischem Tatort-Gerüst möglich ist, haben herausragende Münchener Folgen wie Kleine Herzen oder Im freien Fall schließlich längst bewiesen.

Im 706. Tatort, der die Sterbehilfefrage am zweifellos ergreifenden Schicksal der todkranken Julia Frege (Stella Kunkat, Altlasten) abarbeitet, bleibt am Ende aber zu viel Stückwerk, als dass sich unter dem Strich eine wirklich tragische Wucht entfalten würde. "Ein Sterbehilfe-Medikament für ein 17-jähriges Mädchen - wer macht sowas?", fragt die zu Tränen gerührte Kommissarin in einem anderen Moment des Films, blickt bedeutungsschwanger an der Kamera vorbei ins Nichts und spricht damit aus, was sich der Zuschauer längst gedacht hat.

Koppers Dauerschimpfen auf die Sterbehilfe gerät viel zu undifferenziert, die peitschende, oft völlig übertriebene Filmmusik passt erst auf der Zielgeraden zum Geschehen, und selbst Odenthals Tränen kommen mindestens zwanzig Minuten zu früh.

Da passt es ins Bild, dass Georgi mit der Brechstange einen halbgaren Urlaubsflirt von Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt) in den Plot hämmert, dessen seichter Telenovela-Ton angesichts der todernsten Grundstimmung das größte Ärgernis eines Tatorts darstellt, der sein Potenzial am Ende zu selten ausschöpft.

Sehenswert ist Der glückliche Tod trotzdem: Allein der überragende Cast um Lothar und Giering, die die übrige Besetzung im letzten Filmdrittel mühelos an die Wand spielen, ist das Einschalten wert.

Bewertung: 7/10