Häschen in der Grube

Folge: 712 | 23. November 2008 | Sender: BR | Regie: Dagmar Knöpfel
Bild: BR/Tellux-Film GmbH/Barbara Bauriedl
So war der Tatort:

Pflegefamiliär.

Denn Drehbuchautorin Ingeborg Bellmann hat sich in ihrem bis heute einzigen verfilmten Drehbuch ein Thema besonders groß auf die Fahnen geschrieben: Sie widmet sich in Häschen in der Grube hilfsbedürftigen Kindern aus Kriegsgebieten, die in deutschen Pflegefamilien aufwachsen, sowie den organisatorischen Hintergründen des entsprechenden Vermittlungssystems.

Die Münchner Hauptkommissare Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) staunen einleitend nicht schlecht: Stolze 3.000 Euro bekommen Werner Hübner (Martin Rapold, Freitod) und seine Ehefrau Anne (Stephanie Japp, Ohnmacht) monatlich von der "Stiftung Kinderhilfe" überwiesen, weil sie neben ihren leiblichen Kindern René (Janos Körtge) und Julia (Dido Knöpfel) auch das aus Turkmenistan eingeflogene Waisenmädchen Salima Khalil (Eslem Gür) groß ziehen.

Nicht nur für einen arbeitslosen Grafiker, der seinen Schwiegervater Andreas Greindl (Hans-Michael Rehberg, Schwarzer Advent) regelmäßig um Geld anpumpen muss, eine ganze Menge Geld. Dann aber liegt Werner Hübner tot am Ufer der Isar – und die bedauernswerte Salima muss in ihren jungen Jahren bereits zum zweiten Mal den Verlust ihres geliebten Vaters verkraften.

Überhaupt ist das Mädchen nicht zu beneiden, denn es leidet an Leukämie – wie auch einige andere turkmenische Kinder, die die Stiftung in die Obhut verschiedener Münchner Pflegefamilien vermittelt hat. Ob da alles mit rechten Dingen zu geht?

Krimierprobte Zuschauer dürften schon nach der Helikopter-Landung in der windigen Eröffnungssequenz erahnen, dass ein schmutziges Geschäft dahinter steckt und die Auflösung der klassischen Whodunit-Konstruktion fast zwangsläufig über dessen Offenlegung führt.

Häschen in der Grube ist ein klassischer, für Münchner Verhältnisse (vgl. Nie wieder frei sein, Der oide Depp, Am Ende des Flurs) aber etwas enttäuschender Tatort. Das liegt weniger an der angenehm kniffligen Täterfrage als vielmehr an der flachen Spannungskurve und der überfrachteten Geschichte.

Batic und Leitmayr begegnen bei ihrem 51. Einsatz mindestens drei bis vier Personen zu viel – unter anderem dem schnöseligen Teenager-Kotzbrocken Justus von Ahlen (Jonathan Beck) und seiner Freundin Caroline Puck (Sarah Beck), die ihren kampfsportinteressierten, aber alles andere als selbstsicheren Mitschüler René im Schulalltag quälen und das Ganze mit ihrem Handy filmen, bevor wenige Jahre später soziale Netzwerke wie Facebook und Instagram dem Cyber-Mobbing Tür und Tor öffnen.

Diese dünne Nebenhandlung wirkt nicht ganz ausgereift – noch bedauernswerter ist aber, dass wir über die Vorgeschichte der turkmenischen Kinder und deren leibliche Familien fast nichts erfahren. Die Kinder sind einfach da und sollen uns leid tun.

Drehbuchautorin Bellmann und Regisseurin Dagmar Knöpfel – der 712. Tatort markiert das Schaffensende beider Filmemacherinnen – widmen sich stattdessen neben dem Pflegefamiliensystem einem weiteren Schwerpunkt, der im Schlussdrittel die Oberhand gewinnt: dem prestigeträchtigen Kampf der Forschung gegen den Blutkrebs.

Wirklich Neues erfährt der Zuschauer nicht, vielmehr muss er den großartigen Schauspielern Joachim Król und Hanns Zischler dabei zusehen, wie sie in ihren eindimensionalen Nebenrollen als Dr. Dr. Martin Jahnn und Professor Ansgar Frey kaum gefordert werden und in Häschen in der Grube allenfalls Dienst nach Vorschrift verrichten.

Während Król und Zischler sich erst auf der Zielgeraden in den Vordergrund spielen dürfen, schwächelt die Besetzung an anderer Stelle: Die Nachwuchsdarsteller Janos Körtge, Dido Knöpfel und Eslem Gür sind schauspielerisch nicht immer auf der Höhe und verschwinden kurz nach diesem Tatort auch abseits der Krimireihe schnell wieder von der Bildfläche.

Und dann sind da noch zwei humorvolle Nebenschauplätze, die dem im Ansatz durchaus vielversprechenden Tatort zusätzlich Durchschlagskraft nehmen: Während sich die Kommissare im Präsidium mit der anstrengenden Polizeiakademie-Kollegin Dr. Jung (Gundi Ellert, Der schwarze Skorpion) herumschlagen, versorgt Batic nach Feierabend die Katze Sissi seiner ergrauten Nachbarin – ein mehr als seichter Bremsklotz am Bein der Kriminalhandlung, der im Vorabendprogramm deutlich besser aufgehoben gewesen wäre.

Bewertung: 5/10

Salzleiche

Folge: 711 | 16. November 2008 | Sender: NDR | Regie: Christiane Balthasar
Bild: NDR/Nik Konietzny/Carles Carabi Negueruela
So war der Tatort:

Radioaktiv.

Denn in Salzleiche verschlägt es LKA-Kommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) in die Nähe des atomaren Zwischenlagers in Gorleben, in dessen Richtung seit 1996 die Castor-Transporte aus dem französischen La Hague rollen: Wenige Meter entfernt liegen die Salzhalden eines Erkundungsbergwerks, das in diesem Tatort von Leiter Sören Kasper (Stephan Grossmann, Die fette Hoppe) als Endlager für Atommüll ins Spiel gebracht wird – und das als solches auch in der Realität seit den späten 70er Jahren zur Diskussion steht.

Die Drehbuchautoren Johannes W. Betz (Häuserkampf) und Max Eipp (Mord auf Langeoog) skizzieren diese Debatte in angemessener Ausführlichkeit und setzen ansonsten auf einen klassischen Whodunit: In den Salzhalden gräbt ein Hund den Arm einer Leiche aus, der der salzhaltige Boden fast das gesamte Wasser entzogen hat und die so zum "Ötzi von Gorleben" geworden ist ("Der Mann wurde gewissermaßen gepökelt!").

Ein origineller Einstieg und ein alles andere als alltäglicher Fall für Charlotte Lindholm, die bei ihrem dreizehnten Einsatz von Polizist Jakob Halder (Matthias Bundschuh, Ätzend) unterstützt wird, aber eigentlich andere Sorgen hat: Die Suche nach einem Krippenplatz für Sohn David (Tarik Can Bas) gestaltet sich schwierig und ihrem treuen Mitbewohner Martin Felser (Ingo Naujoks), der – passend zum Tatort – Kaninchen im Salzmantel kocht und für das Kind alles stehen und liegen lassen würde, möchte sie den Kleinen nicht überlassen.

Auch der junge Gerichtsmediziner Edgar Strelow (David Rott, Erntedank e.V.) holt sich bei Lindholm zum wiederholten Male einen Korb – wenngleich er nicht ihr Kind hüten, sondern sie zum Essen ausführen möchte.


LINDHOLM:
Sie bewundern mich, stimmt's?

EDGAR:
Ja, Sie sind ja auch bewundernswert.


Die selbstherrliche Inszenierung der Figur Charlotte Lindholm ist hinlänglich bekannt, doch der dreizehnte Auftritt der ach so toughen Beamtin, die selbst frühmorgens beim Räkeln in den Bettlaken aussieht wie aus dem Ei gepellt, sucht beim Blick auf die bisherigen Folgen seinesgleichen. Der zweite Tatort unter Regie von Christiane Balthasar (Vergessene Erinnerung) ist einer dieser Beiträge, in denen das Seelenleben der alleinerziehenden Mutter wichtiger scheint als alles andere: Alle paar Minuten darf der Zuschauer an Lindholms Privatleben teilhaben – das erstickt jede Spannung im Keim, so dass die Geschichte erst im Schlussdrittel auf Touren kommt.

Wirkt Lindholm bei einer einleitenden Stippvisite im Bergwerk noch so interessiert wie eine Pauschaltouristin beim Besuch einer Tropfsteinhöhle, flaniert sie später gemütlich im Sonnenschein durch Barcelona und Sitges, um den spanischen Vater ihres Kindes zu suchen und radebrechend die Ermittlungen voranzutreiben ("Could you please help me with my koffer, por favor?").

Irgendwann hält sie gar eine radioaktive Kapsel in den Händen und es schaltet sich plötzlich der Bundesnachrichtendienst ein – natürlich nicht, ohne seinem Lockvogel wider Willen überschwänglich zu danken ("Sie haben Ihrem Land einen Dienst erwiesen, Frau Lindholm!"). Wahnsinn. Da staunt selbst Kollegin Belinda Utzmann (Catrin Striebeck) Bauklötze, die zum vierten Mal im Tatort aus Niedersachsen zu sehen ist und Lindholm bei einer entscheidenden Recherche unter die Arme greift.

Peinlicher Höhepunkt dieses figurverliebten Ego-Trips ist aber der Besuch beim überzeichneten Hacker Elvis (Josef Heynert, Brandmal): Lindholm gönnt sich einen Zug an dessen Joint, hat plötzlich Visionen und muss die Nacht auf seiner Couch verbringen.

Nur gut, dass sich die Suche nach dem Täter dank überdeutlich gestreuter Hinweise simpel gestaltet und Zeit für solchen Firlefanz bleibt: Neben dem verbitterten Ex-Geologen Manfred Sandmann (Rainer Sellien), dem Bergwerksangestellten Erwin Augenthaler (Rainer Bock, Nie wieder frei sein) und der Anti-Atomkraft-Aktivistin Welany (Eva Weißenborn) gibt es schließlich nur noch eine weitere Figur, die auffällig viel von ihrem Leben nach Feierabend preisgibt und nicht nach einer halben Stunde das Zeitliche segnet.

Das Motiv? Eines der ältesten in der Geschichte der Menschheit. Die Atomkraft hätte es dafür nicht gebraucht – aber zumindest die tollen Schauwerte und schicken Wendland-Panoramen sind das Einschalten wert.

Bewertung: 4/10

Wolfsstunde

Folge: 710 | 9. November 2008 | Sender: WDR | Regie: Kilian Riedhof
Bild: WDR/Uwe Stratmann
So war der Tatort:

Feindselig.

Und das vor allem auf dem Polizeipräsidium: In Wolfsstunde herrscht dort schlechte Stimmung wie selten in Münster.

Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) gegen Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers), Thiel gegen Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Großmann), Thiel gegen Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter), Thiel gegen die geladene Presse (inkl. Cameo-Auftritt von Jörg Pilawa) und irgendwann sogar Thiel gegen Thiel: Selbst "Vaddern" Herbert (Claus-Dieter Clausnitzer) hat neunmalkluge Ratschläge für seinen entnervten Sohn parat, als er ihn bei einer Stippvisite durch Hamburg kutschiert.

Er muss ordentlich einstecken, der Hauptkommissar – und anders als bei den bisherigen amüsanten Neckereien Boernes, die seit jeher fest zum Erfolgsrezept des Krimis aus Münster zählen, schlägt ihm die Feindseligkeit in dieser Tatort-Folge mit bitterem Ernst entgegen.

Und das alles nur, weil Thiel der Einzige ist, der an die zunächst ziemlich abwegig erscheinende Unschuld des psychisch labilen André Pütz (Thomas Dannemann, Im Sog des Bösen) glaubt: Dem Kriegsfotografen wird ein grausamer Sexualmord zur Last gelegt, alle Indizien sprechen gegen ihn – und außer dem Kommissar scheint die Theorie von einem Serientäter, der sein ehemaliges Opfer Anna Schäfer (Katharina Lorenz, Familienbande) ein zweites Mal aufsuchen könnte, niemand zu teilen.

Zu allem Überfluss lässt sich Thiel, der sich im 710. Tatort nach einem Anruf unter der Dusche mit entblößtem Penis zeigt, bei einer knackigen Verfolgungsjagd über die Dächer der Studentenstadt auch noch vorführen. Au weia.

Wer am Ende Recht behält, ist zwar leicht vorherzusehen – doch als Whodunit funktioniert der Krimi ohnehin nur bedingt, weil die Auflösung eine halbe Stunde vor dem Abspann aus dem Hut gezaubert wird und der Täter vorher gar nicht auf der Bildfläche erscheint.

Regisseur Kilian Riedhof, der gemeinsam mit Marc Blöbaum (Borowski und die heile Welt) auch das Drehbuch zum Film schrieb, inszeniert vielmehr ein fesselndes Katz-und-Maus-Spiel, bei dem der Täter sein Opfer genüsslich vor sich hertreibt.

Schauspielerin Katharina Lorenz zeigt als bedauernswertes Ziel der Begierde bei einem stark gespielten Zusammenbruch, was sie auf dem Kasten hat, während Arnd Klawitter (Der illegale Tod) als stalkender Sascha Kröger schon durch sein braves Aussehen den Teufel im Eichhörnchenkostüm allgegenwärtig erscheinen lässt.

Dass es schließlich Boerne ist, der nach einem plötzlichen Sinneswandel den entscheidenden Beitrag zur Überführung des Täters leistet, wirkt zwar nicht ganz glaubwürdig – es bleibt aber eine von wenigen Schwächen in einem ansonsten hervorragend arrangierten und stellenweise hochspannenden Krimi, der zudem mit vielen gelungenen Gags punktet.

Für den in den Jahren danach fast nur noch auf Humor ausgerichteten Tatort aus Westfalen ist der hohe Thrill-Faktor bemerkenswert: Selbst der köstlich-peinliche Online-Date-Fauxpas des ewig frotzelnden Boerne ("Wenn ich eine Kleinfamilie gründen möchte, wende ich mich an Sie.") mit Silke "Alberich" Haller (Christine Urspruch) verändert den Erzählton nicht nachhaltig.

Dass man so stark mit den Figuren des Krimis fiebert, liegt im Übrigen auch daran, dass deren Anzahl überschaubar bleibt: Im Schlussdrittel dreht sich alles nur noch um Schäfer, deren Vertrauensgespräche mit Thiel nicht immer so enden, wie es sich der alleinstehende FC St. Pauli-Fan wohl gewünscht hätte.


SCHÄFER:
Spielen die international?

THIEL:
Nee, die spielen bei Nieselregen.


Bewertung: 8/10