Vermisst

Folge: 743 | 11. Oktober 2009 | Sender: SWR | Regie: Andreas Senn
Bild: SWR/Krause-Burberg
So war der Tatort:

Wehmütig zurückblickend.

Denn die Ludwigshafener Ermittler erinnern sich im 743. Tatort häufig an "damals": Die Neunziger grüßen als fiese Frisuren von Passbildern, Hauptkommissarin Lena Odenthal (Ulrike Folkerts) begeht ihr 20-jähriges Dienstjubiläum und hat wieder einmal einen Geburtstag am Arbeitsplatz hinter sich gebracht.

Ihr Kollege Mario Kopper (Andreas Hoppe) und Assistentin Edith Keller (Annalena Schmidt), das Seelchen mit dem Katzenberger-Dialekt, warten auf der Überraschungsparty vergeblich – symptomatisch für das Team aus dem Südwesten.

Denn der mysteriöse Anruf einer unbekannten Zeugin, die neue Erkenntnisse im zwölf Jahre zurückliegenden Mordfall Christine Ritterling liefern könnte, führt das Geburtstagskind zu einer Toten: Im Lustgarten endet die Reise der Person, die allem Anschein nach die lange vermisste Michaela Bäuerle ist, und die möglicherweise in Nizza unter dem falschen Namen Michelle Boyer ein neues Leben begonnen hatte.

In Ludwigshafen wartet man darauf, dass sich alte Wunden endlich schließen: Michaelas Eltern Ruth (Cornelia Schmaus, Nachtkrapp) und Günther Bäuerle (Peter Rühring, Abschaum) sind tief gespalten. Nick Ritterling (Thomas Sarbacher, Bittere Trauben) hat seine Strafe für den Mord an seiner Gattin bereits verbüßt und führt seit der Haftentlassung ein neues Leben als Aussteiger. Hätte die Tote ihn nachträglich entlasten können?

Odenthal steigt mit ins Boot. Verbotene Gefühle, Eifersucht und quälende Sehnsüchte sind in der beschaulichen Heimat tief in den Boden gesickert: Jeroen Willems (Hart an der Grenze) überzeugt als Immobilienmakler Jan Seegmeister, der sich nach dem wahren Glück mit seiner heimlichen Ex-Liebe verzehrt und den seine von Hass zerfressene Ehefrau Conny (Cornelia Harfouch, Pauline), ein perfekt inszenierter Eisklotz, unter Druck setzt.

Da ist die Suche nach der Wahrheit manchmal zweitrangig, so dass der eventuell Unschuldige seine verbüßte Haftstrafe mit dem Blick nach vorn sogar billigend in Kauf nimmt. Auch Odenthals Ex-Kollege Schlothfang (Hans-Jörg Assmann, Der Lippenstiftmörder) erweist den alten Zeiten seine Referenz:


SCHLOTHFANG:
Odenthal! Schon so lange her. Wo haben Sie denn ihre Lederjacke gelassen?


Wie Lena O.'s gestählte Oberarme im Feinripp-Unterhemd, auf denen das Stacheldraht-Tattoo langsam verblasst, ihren Kater streicheln, ist eine augenzwinkernde Hommage an die Anfangszeit der oft übertrieben kantig gespielten Ermittlerin, mit der Ulrike Folkerts viele genervt, aber auch ein Stück deutsche Fernsehgeschichte geschrieben hat.

Nicht zuletzt hat Lena Odenthal seit ihrem Debüt in Die Neue die Männerdomäne Polizei (Frauen sind im Tatort erst seit 1979 dabei) zumindest auf dem Bildschirm ziemlich herausgefordert. Relax läuft im Tatort von 2009 nur noch in einer Currywurstbude unter einer Autobahnbrücke: Sebastian Sixtus (Guido A. Schick, Mord auf Langeoog), damals als DJ Sunny erfolgreich, ist älter und fetter geworden, und in die Gedanken an früher mischen sich Zweifel und Reue darüber, sich ein falsches Leben übergestülpt haben zu lassen.

Vermisst ist auf den zweiten Blick aber auch ein vielschichtiger Tatort mit überzeugenden schauspielerischen Leistungen, der aus Krimi-Schachfiguren zutiefst menschliche Charaktere macht. Regisseur Andreas Senn (Kaltblütig) zeigt Personen, die mit ihrem Schicksal hadern und sich mit ihrem Wunsch, dass das Leben irgendwie weitergeht, durch ihren Alltag schleppen. Die feinsinnige Inszenierung tröstet dabei über den einen oder anderen langatmigen Dialog hinweg.

Drehbuchautor Christoph Darnstädt, der später unter anderem für die ersten fünf Tatort-Folgen mit Nick Tschiller die Story liefert, beschreibt den Blick zurück gekonnt mit allen Verwirrungen und Fehlern, die sich in die menschliche Erinnerung einschleichen. Er jongliert so geschickt mit den Ursehnsüchten nach weiter Welt, besseren Zeiten und großen Gefühlen, dass der Plot knallhart mit dem Wahrheitsanspruch des Zuschauers kollidiert, und die Auflösung tatsächlich überrascht.

Obwohl das Wechselspiel auf der Zielgeraden etwas konfus wirkt und es auch die auffällige Anlehnung an einen Hollywood-Blockbuster der 90er Jahre nicht gebraucht hätte, bleibt das Gefühl, ertappt worden zu sein: Es möge jemand kommen, der das Karussell der Trostlosigkeit anhält und aussteigen lässt (wer mal in LU am Bahnhof stand, kennt dieses Gefühl).

Die Protagonisten ziehen am Ende Bilanz – jeder auf seine Art.

Bewertung: 7/10

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