Der tiefe Schlaf

Folge: 856 | 30. Dezember 2012 | Sender: BR | Regie: Alexander Adolph
Bild: ORF/BR/Kerstin Stelter
So war der Tatort:

Trügerisch-tragisch.

Denn ziemlich genau eine Stunde lang wird der Zuschauer in Der tiefe Schlaf bei herrlichem Frühlingswetter in falscher Sicherheit gewogen – um dann urplötzlich mit einer kolossalen Kehrtwende aufs Kreuz gelegt zu werden und ein Wechselbad der Gefühle zu durchleben.

Der oft humorvolle Auftakt, der sich im letzten Krimidrittel als tragischer Nährboden für ein stark arrangiertes Finale und einen dramatischen Schlussakkord entpuppt, riecht zunächst verdächtig nach einem uninspirierten Drehbuch vom Reißbrett: Schon wieder ein neuer Kollege mit vielen Marotten, dessen Namen sich das angesichts der unzähligen Tatort-Teams im Jahr 2012 ohnehin schon gebeutelte Publikum merken muss.

Ex-Funker Gisbert Engelhardt (Fabian Hinrichs, ab 2015 im Franken-Tatort als Hauptkommissar Felix Voss zu sehen), der den Münchener Ermittlern Ivo Batic (Miroslav Nemec) und Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) aufs Auge gedrückt wird, macht bei seinem ersten Fall eigentlich so ziemlich alles falsch: Der Frischluftfanatiker und Spontan-Profiler stürzt sich zwar topmotiviert in den Fall und zweifelt zu keiner Sekunde an seinen Fähigkeiten, zeichnet sich aber in erster Linie durch stümperhafte Verhörmethoden, unpassende Erfolgsversprechungen und waghalsige Theorien aus, die er immer wieder über den Haufen werfen muss. 


ENGELHARDT:
Sportlehrer sind oft spitz auf ihre Schülerinnen!


Nur ein weiterer, müder Sidekick, der in die Fußstapfen von Carlo Menzinger (Michael Fitz) treten und die ergrauten Münchener Kommissare mit seinem Fehlverhalten ein wenig auf Trab bringen soll? Von wegen.

Zwar muss sich Engelhardt, den vor allem Batic mit Engelsgeduld an die Hand nimmt, wie schon der ungeliebte Kollege Fechner (Maxi Schafroth) aus dem durchwachsenen Münchener Vorgänger Ein neues Leben schon nach nur einem Auftritt wieder vom Tatort verabschieden – der Grund ist diesmal aber ein anderer. Und wer den 856. Tatort nach einer knappen Stunde abschaltet, weil er glaubt, das alles schon mal gesehen zu haben, begeht daher einen schweren Fehler.

Auf Regisseur und Drehbuchautor Alexander Adolph, der bereits die überragenden Drehbücher zu den Tatort-Meilensteinen Der oide Depp, Nie wieder frei sein und Der Weg ins Paradies schrieb, ist nämlich auch diesmal Verlass: Wenngleich sich sein unbeschwerter, jedoch nie zu klamaukiger Grundton ("Wollen wir nach der Arbeit vielleicht eine Hopfenkaltschale trinken gehen?") nur schwer mit dem grausamen Mord an der jugendlichen Carla (Anna Willecke, Kinderland) in Einklang bringen lassen will, bricht der Filmemacher erneut mit mehreren eisernen Tatort-Prinzipien und enthält dem Publikum sogar das Gesicht des Täters vor, auf dessen Spur die akribische Tonbandanalyse Engelhardts führt.

Dass sich keiner der beiden Hauptverdächtigen – sei es der transpirierende Sportlehrer Seifert (Stefan Murr) oder der alles andere als zimperliche Spediteur (Wolfgang Maria Bauer, Ein Sommernachtstraum) – ernsthaft als Täter aufdrängt, ist der Spannung zwar nicht zuträglich, am Ende aber bemerkenswert konsequent: Der tiefe Schlaf verfolgt höhere Ziele als bloß die Auflösung eines Whodunits von der Stange und verdeutlicht eindringlich, dass ein Mord selbst altgediente Kommissare wie Batic und Leitmayr, die den Fall zwischenzeitlich gar abgeben müssen, vom gewohnten Kurs abbringen kann.

Das schmeckt nicht jedem Zuschauer, macht die letzte aber zugleich zu einer der besten Tatort-Folgen des Jahres 2012.

Bewertung: 9/10

Im Namen des Vaters

Folge: 855 | 26. Dezember 2012 | Sender: HR | Regie: Lars Kraume
Bild: HR/Armin Alker
So war der Tatort:

Streng katholisch – oder eben auch nicht.

Die beste Nachricht vorweg: Anders als beim wenige Wochen zuvor ausgestrahlten Berliner Tatort Dinge, die noch zu tun sind ist im Weihnachtstatort 2012 nicht schon vor der ersten Sendeminute klar, wer der Täter ist, weil der Krimititel Im Namen des Vaters das Mordmotiv nicht eindeutig vorwegnimmt. 

Zwar steht beim vierten und leider schon vorletzten gemeinsamen Einsatz von Frank Steier (Joachim Król) und Conny Mey (Nina Kunzendorf) mit dem jungen Pater Markus (Florian Lukas, Der treue Roy) von Beginn an ein katholischer Geistlicher im Blickpunkt, doch schon nach einer Viertelstunde darf aufgeatmet werden: Regisseur Lars Kraume (Eine bessere Welt), der bereits die ersten beiden Frankfurter Tatorte mit Steier und Mey inszenierte und mit Axel Petermann (Der Tote im Nachtzug) auch das Drehbuch zum Film schrieb, zeigt einen kurzen Ausschnitt aus einer Beichte, nach dem die Täterfrage völlig offen ist. 

Pater Markus nimmt es mit seiner Vorbildfunktion als Vertreter der katholischen Kirche ohnehin nicht so genau: Als einer von mehreren Tatverdächtigen im 855. Tatort ist er Teil einer feuchtfröhlichen Kneipenrunde in der Silvesternacht, nach der Schnapsdrossel Agnes Brendel (herrlich abgefuckt: Anna Böttcher, Der vierte Mann) wie so oft nicht mehr den Weg in ihr eigenes Bett findet und am Neujahrsmorgen tot am Straßenrand liegt.

Die einleitende Tatortbesichtigung, bei der Steier  die alkoholschwangere Silvesterfeier auf dem Polizeipräsidium noch einmal Revue passieren lassen, ist zugleich die amüsanteste Sequenz in Im Namen des Vaters, weil das ungleiche Ermittlerduo hier voll in seinem Element ist und die taufrische Partylöwin Mey den verkaterten Trinkerkollegen Steier hämisch verspotten darf.


STEIER:
Sagen Sie mal, seit wann duzen Sie mich eigentlich?

MEY:
Naja, ich dachte, nach gestern...?


Leider denkt Kraume, der beim Briefing der Kollegen auf dem Präsidium mit einer tollen Split-Screen-Montage eine kleine Fingerprobe seines inszenatorischen Könnens abliefert, Steiers Vorsatz, fortan keinen Tropfen Alkohol mehr anzurühren, nicht ganz zu Ende: Er lässt den Hauptkommissar nur hin und wieder gierig aus einer Flasche Wasser trinken und verschenkt in der Folge reichlich Pointen.

Andererseits: Frankfurt ist schließlich nicht Münster, und so kommt die Konzentration auf das Wesentliche erfreulicherweise der Spannung und der messerscharfen Milieuskizzierung zugute.

Zwar ist der Täter für das tatorterprobte Publikum schon nach einer halben Stunde offensichtlich, doch vor allem die Besetzung der Nebenrollen kann sich sehen lassen. Hier glänzt vor allem Rainer Bock (Nie wieder frei sein) als von den Frauen links liegen gelassender Hobby-Zimmermann Werner Krabonk.

Und dann ist da noch Meys nette Spitze auf den redseligen Ermittlungspartner, bei der man sich auch in Köln und Ludwigshafen angesprochen fühlen darf.


STEIER:
Wenn jetzt auch noch das Blut von der Brendel ist, haben wir den Mörder.

MEY:
Ja, ist doch klar, Mann!


STEIER:
Was?

MEY:
Na, Sie sagen in letzter Zeit oft so Sachen, die doch eh klar sind.


Bewertung: 7/10

Das goldene Band

Folge: 854 | 16. Dezember 2012 | Sender: NDR | Regie: Franziska Meletzky
Bild: NDR/Gordon Muehle
So war der Tatort:

Halb-doppelt, zum Zweiten. 

Eine Woche nach der Erstausstrahlung von Wegwerfmädchen schickt Das Erste Teil 2 des in der Tatort-Geschichte bis dato einmaligen Zweiteilers hinterher – und Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) in die weißrussische Provinz. 

Das goldene Band spielt sechs Wochen nach den Ereignissen in Wegwerfmädchen und hievt den Fall erwartungsgemäß auf eine internationale Ebene: War es im ersten Teil noch der Mörder, den es zu finden galt, macht sich die Kommissarin nun gemeinsam mit ihrer Kollegin Carla Prinz (Alessija Lause) und ihrem Lover Jan Liebermann (Benjamin Sadler) auf die Suche nach den Hintermännern. 

Auch bei Lindholms 21. Einsatz gilt dabei Tatort-Regel Nr. 1: Am Anfang steht die Leiche, und deswegen ist der Knast-Aufenthalt von Hunnen-Killer Littchen (René Schwittay) nur von kurzer Dauer. Dass dieser Auftragsmord schon bald keine Rolle mehr spielt, liegt auch daran, dass Hunnen-Präsident und Auftraggeber Uwe Koschnik (Robert Gallinowski) trotz seiner weitreichenden Verstrickungen in die illegalen Machenschaften der Hannoverander High Society schnell aus dem Blickfeld gerät und in Das goldene Band nur Randfigur bleibt. 

Pünktlich zum großen Finale gesteht er aber dann noch fix das, was Lindholm hören will, weil die Kommissarin genüsslich Kondensmilch über seine heilige Hunnenkutte kippt und bei der Rotlichtgröße damit einen mittelschweren Tobsuchtsanfall provoziert. Klingt unglaubwürdig? Ist es auch: Angeblich versucht die Justiz schließlich seit Jahren vergeblich, den gewieften Koschnik festzunageln. Ein wenig mehr Selbstbeherrschung hätte dem Bilderbuchbiker gut zu Gesicht gestanden.

Auch sonst reihen Regisseurin Franziska Meletzky (Zwischen den Ohren) und Drehbuchautor Stefan Dähnert (Schlaraffenland), die den Zweiteiler in enger Absprache mit Maria Furtwängler konzipierten, vor allem im letzten Krimidrittel einige Ungereimtheiten aneinander: Erst verordnet Lindholm-Chef Bitomsky (Torsten Michaelis) seiner Ermittlerin Zwangsurlaub, nimmt aber schon wenige Stunden später all ihre Rechtsverstöße wie selbstverständlich auf seine Kappe. 

Lindholm fliegt mal eben auf eigene Faust in die weißrussische Pampa und kann von Glück sagen, dass ihr dort Lover Liebermann zuhilfe kommt, der sich zufällig gerade im selben, mit drei Dutzend Gästen vollgepackten Haus aufhält, in das man Lindholm zur möglichst geräuschlosen Exekution bringt, statt sie einfach in einem Waldstück in der Einöde abzuknallen. 

Auch die Überführung des Sohnes von Wegwerfmädchen Larissa Pantschuk (Emilia Schüle) nach Deutschland ist für die zwei Liebenden, deren Beziehung nach dem 854. Tatort Geschichte ist, nur Formsache, weil sich der Knirps bereitwillig mitnehmen lässt und Lindholm-Sohn David, der in Das goldene Band mit soviel Dialogzeilen wie nie gesegnet ist, zum Verwechseln ähnlich sieht (oder auch nicht). Unterhaltsam ist der zweite Teil des Tatort-Zweiteilers trotzdem, weil die Liebelei mit Liebermann die Geschichte diesmal entscheidend voranbringt, statt sie wie in Wegwerfmädchen immer wieder auszubremsen.

Hier werden Erinnerungen an den herausragenden Lindholm-Tatort Atemnot wach, dessen Emotionalität und Dramatik Das goldene Band aber nie erreicht.

Bewertung: 5/10

Wegwerfmädchen

Folge: 853 | 9. Dezember 2012 | Sender: NDR | Regie: Franziska Meletzky
Bild: NDR/Gordon Muehle
So war der Tatort:

Halb-doppelt, zum Ersten.

Wegwerfmädchen und Das goldene Band, der einen Adventssonntag später ausgestrahlt wird, bilden gemeinsam die erste Doppelfolge in der über vierzigjährigen Tatort-Geschichte. Trotz der inhaltlichen Verknüpfung sollen die beiden Folgen dabei als eigenständige Krimis funktionieren – ein durchaus kniffliges Unterfangen, das aber überraschend gut gelingt.

Franziska Meletzky (Zwischen den Ohren), die bei beiden Filmen Regie führt, und Autor Stefan Dähnert (Bluthochzeit), der auch das Drehbuch zur Fortsetzung beisteuert, wühlen buchstäblich im Abfall der Hannoveraner High Society, schicken Hauptkommissarin Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) bei ihrem 20. Einsatz in Rotlichtbars und dreckige Müllverbrennungsanlagen und lassen die verdadderte Ermittlerin am Ende hilflos in der Hannoveraner LKA-Zentrale zurück.

Dass dieser für Tatort-Verhältnisse ziemlich ungewöhnliche Schlussakkord des ersten Doppelfolgen-Teils nach dem Abspann dennoch schnell verdaut ist, steht exemplarisch für den Schongang, den der 853. Tatort trotz der beklemmenden Bildsprache einlegt: Wegwerfmädchen Larissa Pantschuk (stark: Emilia Schüle), die einleitend in einer atemberaubend fotografierten Szene wie Phönix aus der Asche einem stinkenden Müllberg entsteigt, wird nach vermeintlicher Rettung durch ihren Vater von Kriminellen in einem Container weggesperrt; die Türen krachen laut ins Schloss, ihr Schicksal als minderjährige Prostituierte scheint besiegelt.

Doch installieren Meletzky und Dähnert diese wortlose Botschaft zugleich als bedrückende Schlusseinstellung des Films? Leider nein. Stattdessen gönnen sie Lindholm und Lover Jan Liebermann (Benjamin Sadler, Mord in der ersten Liga) ein paar weitere, völlig überflüssige Sekunden vor der Kamera, in der sich die beiden freudestrahlend abknutschen und den Zuschauer damit sanft in den Sonntagabend entlassen.

Dieser ärgerlich weichgespülte Ausklang ist die atmosphärisch folgenschwerste mehrerer unnötiger Kitschszenen, die dem düster ausgerichteten Fall um skrupellosen Menschenhandel, Zwangsprostitution und Machtspielchen oft die erzählerische Wucht rauben. Lindholm quält sich und den Zuschauer beim halbherzigen Fußballspielen mit Sohn David und radelt bei strahlendem Sonnenschein verliebt mit Liebermann durch die Gegend, während der undurchsichtige Staatsanwalt von Braun (André Hennicke, Inflagranti) in aller Seelenruhe die Fäden ziehen kann.

Immer wieder bremst das ausführlich illustrierte Privatleben der alleinerziehenden Mutter – ein altbekanntes Dilemma der Lindholm-Folgen – den Krimi spürbar aus, so dass sich Wegwerfmädchen seine Spannung mühsam zurückerarbeiten muss. Als deutlich unterhaltsamer entpuppt sich da die für den Krimiverlauf entscheidende, wenn auch nicht ganz glaubwürdige Nebenhandlung um den rücksichtslosen Hannoveraner Hells Angels-, pardon, Hunnen-Boss Uwe Koschnik (Robert Gallinowski, Stille Wasser), der dem tatverdächtigen Beitrittskandidaten Wolfram Littchen (René Schwittay) einige kriminelle Opfer abverlangt.

So steht unter dem Strich ein sehenswerter, aber nur bedingt überzeugender Tatort, der zwar Lust auf die Fortsetzung Das goldene Band macht, das Potenzial seiner Story aber nie ganz ausschöpft.

Bewertung: 6/10

Todesschütze

Folge: 852 | 2. Dezember 2012 | Sender: MDR | Regie: Johannes Grieser
Bild: MDR/Junghans
So war der Tatort:

Zivilcouragiert.

Und damit nah dran an realen Schreckensbeispielen wie dem Fall Dominik Brunner, der 2009 an einer Bahnstation in München-Solln zum Opfer eines tödlichen Gewaltverbrechens wurde (vgl. Gegen den Kopf). Pünktlich zur Erstausstrahlung von Todesschütze gab Simone Thomalla, die als Hauptkommissarin Eva Saalfeld wieder gemeinsam mit Andreas Keppler (Martin Wuttke) auf Tätersuche in Leipzig geht, aber auch ihre eigene Erfahrung zu Protokoll: In einer Bahn griff sie einst beherzt ein, als eine junge Frau von zwei Männern attackiert wurde, aber dank Thomallas Einsatz mit dem Schrecken davon kam.

In Todesschütze fehlt die Leiche in der ersten Dreiviertelstunde ebenfalls: Das Ehepaar Anne (Natascha Paulick) und René Winkler (Stefan Kurt, Veras Waffen) wird in einem Park von drei Jugendlichen fast totgetreten, überlebt aber schwerverletzt. Dennoch werden Keppler und Saalfeld von der Mordkommission auf den Fall angesetzt – und ermitteln schon bald in den eigenen Reihen, weil die zwielichtigen Kollegen Phillip Rahn (der spätere Hamburger Tatort-Kommissar Wotan Wilke Möhring, Pauline) und Peter Maurer (Rainer Piwek, Das namenlose Mädchen) die Jugendlichen am Tatort vertrieben, aber keinen der in ihrem Revier schon häufiger straffällig gewordenen Täter erkannt haben wollen.

Auch weil das eingespielte Autorenduo um Mario Giordano und Andreas Schlüter den drei Jugendlichen immer wieder Szenen ohne Kamerapräsenz der Kommissare zugesteht, muss man kein großer Prophet sein, um vorherzusehen, dass bei der Sache irgendwas nicht stimmt: Der Zuschauer ist Keppler und Saalfeld bei den Ermittlungen meist eine Nasenlänge voraus.

Erfreulicherweise verkommt Todesschütze dabei nicht zum zu befürchtenden, flammenden Plädoyer für mehr Zivilcourage – müde Stammtischweisheiten wie die von Maurers Ehefrau Frauke (Winnie Böwe) bleiben die Ausnahme.


MAURER:
Es gibt immer weniger Leute mit Zivilcourage. Die meisten gucken doch einfach weg.


Schon unzählige Tatort-Folgen (man denke nur an den Odenthal-Rohrkrepierer Der Wald steht schwarz und schweiget oder den Berliner Tatort Dinge, die noch zu tun sind) scheiterten an der halbwegs glaubhaften Skizzierung jugendlicher Straftäter – der 852. Tatort gehört erfreulicherweise nicht dazu.

Wenngleich Regisseur Johannes Grieser (Scherbenhaufen) das Trio Infernale in der ersten Krimihälfte dazu nötigt, in so gut wie jeder Szene halbvolle Bierdosen in der Hand zu halten und die Cliquenhierarchie sehr klassisch ausfällt, wirken die Streitgespräche und Gewaltszenen für Tatort-Verhältnisse über weite Strecken authentisch.

Und spätestens, als nach einer knappen Stunde plötzlich ein toter Polizist zu beklagen ist, kommt Todesschütze sogar richtig in Fahrt – gipfelnd in einem spannenden Showdown samt Geiselnahme, bei dem Keppler seine mangelhaften Qualitäten als Autofahrer unter Beweis stellen darf.

Damit ist dieser Film eindeutig eine der besseren Tatort-Folgen aus Leipzig, der den kitschigen Cocktailabend am Pensionstresen, der die Handlung zwischenzeitlich komplett ausbremst, und den eher unfreiwillig komischen Berserker-Auftritt des wütenden Winkler, der die Teenager wie von Sinnen mit einem Elektroschocker malträtiert, eigentlich gar nicht nötig hat.

Bewertung: 6/10

Das Wunder von Wolbeck

Folge: 851 | 25. November 2012 | Sender: WDR | Regie: Matthias Tiefenbacher
(Bild: WDR/Wolfgang Ennenbach)
So war der Tatort:

Ländlich.

Pünktlich zur hölzernen Hochzeit von Hauptkommissar Frank Thiel (Axel Prahl) und Professor Karl-Friedrich Boerne (Jan Josef Liefers) – die beiden Publikumslieblinge aus Münster feiern mit Das Wunder von Wolbeck ihr zehnjähriges Tatort-Jubiläum – schickt der WDR das ungleiche Quoten-Traumpaar mal wieder raus aufs Land und knüpft damit nahtlos an die früheren Münsterland-Ausflüge in Höllenfahrt oder Spargelzeit an.

Man hätte den beiden mit Abstand beliebtesten Tatort-Ermittlern eine bessere Jubiläumsfolge gewünscht: Regisseur Matthias Tiefenbacher, der bereits Herrenabend und Tempelräuber realisierte, inszeniert einen furchtbar witzlosen Wald- und Wiesenklamauk, der selbst für Münsteraner Verhältnisse fast nichts mehr mit einem klassischen Sonntagabendkrimi zu tun hat.

Die erste Stunde passiert in Das Wunder von Wolbeck eigentlich überhaupt nichts: Nach dem Fund der Leiche irren Thiel und Boerne inmitten von Kühen, Ziegen, Gänsen und einem krähenden Pfau umher, der im 851. Tatort häufiger durchs Bild stolziert als die weitestgehend arbeitslose Assistentin Nadeshda Krusenstern (Friederike Kempter) und Staatsanwältin Wilhelmine Klemm (Mechthild Grossmann) zusammen.

Boerne versucht sich derweil in der Rindermast und muss sich schon bald Exkremente von den randlosen Brillengläsern wischen, während die alteingessenen Wolbecker fleißig Schnodder auf den Tresen niesen. Selbst vor billigstem Fäkalhumor – sonst eher ein Markenzeichen peinlicher Spoof-Komödien im Stile von Meet the Spartans oder The Super-Bad Movie – macht Wolfgang Stauch, der unter anderem das Drehbuch zum sehr sehenswerten Bodensee-Tatort Die schöne Mona ist tot beisteuerte, nicht halt.

Untermalt wird das Treiben im ländlichen Münsterland von einem Soundtrack, der Western-Saloons in zweitklassigen Freizeitparks deutlich besser zu Gesicht stünde und mit penetrantem Countrygedudel, das vor allem in den ruhigeren Vernehmungsszenen vollkommen deplatziert wirkt, jegliches Aufkommen von Spannung im Keim erstickt.

Immerhin: Die heiteren Banjoklänge heben Das Wunder von Wolbeck zumindest von öffentlich-rechtlichen Vorabendserien wie Der Landarzt, Großstadtrevier oder Forsthaus Falkenau ab, die dem 22. gemeinsamen Einsatz der beiden Münsteraner Ermittler in Sachen Spannung ansonsten in nichts nachstehen. Da gerät es fast zur Randnotiz, dass Lina Beckmann (Das Dorf) in der Rolle der psychisch labilen Stella schauspielerisch über sich hinauswächst und sich einige starke Wortgefechte mit Thiel liefert.

Der darf in Wolbeck im Übrigen auch seine Fähigkeiten als Babysitter unter Beweis stellen und ein Kleinkind im Kinderwagen in den Schlaf singen – eine der ganz wenigen, wirklich guten Szenen in einer Tatort-Folge, die für die bis dato fast unantastbare TV-Institution "Tatort Münster" einen herben Ausrutscher nach unten darstellt und bis dato die mit Abstand schwächste aus der Stadt in Westfalen ist. Das wird lange so bleiben: Erst zehn Jahre später geht es mit Propheteus noch tiefer in den Keller.

Bewertung: 2/10

Dinge, die noch zu tun sind

Folge: 850 | 18. November 2012 | Sender: rbb | Regie: Claudia Garde
Bild: rbb/Volker Roloff
So war der Tatort:

Themenbezogen – mal wieder.

Denn nicht zum ersten Mal muss der Tatort für den Auftakt einer ARD-Themenwoche herhalten: Dinge, die noch zu tun sind leitet 2012 die Themenwoche "Leben mit dem Tod" ein. Zuletzt ermittelten 2011 die Bremer Kollegen Lürsen und Stedefreund zum Auftakt der Themenwoche "Der mobile Mensch" im Flüchtlingsdrama Der illegale Tod, ein Jahr zuvor starb in Borowski und eine Frage von reinem Geschmack ein Teenager an einer Überdosis eines Lebensmittelfarbstoffs – passend zur ARD-Themenwoche Essen ist Leben.

In Dinge, die noch zu tun sind erhalten die Berliner Kommissare Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic) nun Unterstützung von Drogenfahnderin Melissa Mainhard (Ina Weisse, Schiffe versenken), die unheilbar an Krebs erkrankt ist – wie schon lange vor der ersten Tatort-Minute in jeder drittklassigen Fernsehzeitschrift zu lesen war. Und nun die alles entscheidende Frage:

Wenn Mainhard nur noch wenige Wochen zu leben hat, ihr Töchterchen Alina täglich mit Designerdrogen in Kontakt kommt und der Tatort Dinge, die noch zu tun sind heißt – wer hat dann wohl die bösen Drogendealer ermordet? Na?

Das ist so schlecht, dass es fast schon wieder witzig ist, gipfelt hier in einer mehr als zweifelhaften Moral und killt natürlich schon vor der ersten Tatortbesichtigung jegliche Spannung – vom Miträtseln mal ganz zu schweigen. Und dann sind da noch Weisheiten wie diese:


RITTER:
Pubertät – das ist doch die Zeit, wo die Eltern komisch werden. 


Amen.

Es sind jedoch nicht nur die platten Sprüche von Ritter oder Anwalt Heiner Schädlich (Stephan Grossmann, "Recht haben und Recht bekommen sind zwei völlig verschiedene Dinge."), die mehr als peinliche Vorhersehbarkeit oder das thematische Korsett, in das die ARD das Drehbuch von Jörg Tensing schnürt, die dem 850. Tatort den Hals brechen.

Einmal mehr – man denke an den Totalausfall Der Wald steht schwarz und schweiget oder den kaum glaubwürdigeren Wiener Fall Vergeltung – scheitern die Filmemacher auf ganzer Linie daran, eine Gruppe von Jugendlichen auch nur halbwegs authentisch zu charakterisieren.

Exemplarisch dafür steht die Sequenz auf einem Berliner Gitterbolzplatz (im Viertel offenbar the place to be): Da spielen bunt gekleidete, top gestylte und fesch frisierte, bunte Sonnenbrillen, lange Schals und trendige Hosenträger tragende, blendend aussehende Teenie-Hipster gleichzeitig (!) Basketball und Fußball, auf ein und demselben Platz, ohne Mannschaften, ohne Regeln, ohne alles eben. Hauptsache, Cap und Frise sitzen und man kann Drogentütchen weiterreichen wie Panini-Bilder.

Gut, dass das zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich eh niemanden mehr wirklich stört, weil der Krimititel ja längst verraten hat, wo der Hase langläuft. Dinge, die noch zu tun sind, den mit Claudia Garde (Borowski und der vierte Mann) übrigens keine Tatort-Unbekannte inszeniert, ist eine der schwächsten Berliner Tatort-Folgen aller Zeiten und erntet dank des Feuerwerks an unfreiwilliger Komik das zweifelhafte Prädikat Totalausfall.

Bewertung: 1/10

Mein Revier

Folge: 849 | 11. November 2012 | Sender: WDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: WDR/Willi Weber
So war der Tatort:

Faberfixiert.

Im zweiten Dortmunder Tatort Mein Revier, für den erneut Drehbuchautor Jürgen Werner und Regisseur Thomas Jauch verantwortlich zeichnen, bestätigt sich ein Stück weit das, was der Erstling Alter Ego wenige Wochen zuvor bereits befürchten ließ: Vier Kommissare, die zudem von Gerichtsmediziner Jonas Zander (Thomas Arnold) unterstützt werden und bei den Ermittlungen mit dem Kollegen Polland (Matthias Komm) aneinandergeraten, sind für einen neunzigminütigen Sonntagabendkrimi in dieser Konstellation mindestens einer zuviel.

"Ich bin's, Faber, das Arschloch!" stellt sich Hauptkommissar Peter Faber (Jörg Hartmann) beim Showdown vor, und bringt damit die Charaktereigenschaften, auf die ihn Jauch und Werner noch über weite Strecken reduzieren, exakt auf den Punkt. Faber ist in erster Linie das Kollegenschwein, der ewig schlecht gelaunte, Pillen schmeißende Sonderling, der als Figur einen derartig großen Raum für sich beansprucht, dass für die Kollegen kaum noch Platz bleibt.

Während Daniel Kossik (Stefan Konarske) und Nora Dalay (Aylin Tezel) heimlich Nummern schieben und in jedem unbeobachteten Moment in kitschigen Dialogen auf Soap-Niveau ihre ungewöhnliche Beziehung diskutieren müssen, bestellt sich Martina Bönisch (Anna Schudt) nach Feierabend einen schnuckeligen Callboy (Jo Weil) aufs Zimmer und schlägt sich am Telefon mit ihrem drogenabhängigen Sohn herum.

Ein gefühltes Viertel des Drehbuchs steht ganz im Zeichen privater Nebenkriegsschauplätze, die den 849. Tatort vor allem in der ersten Hälfte immer wieder ausbremsen und eine differenzierte Milieu-Skizzierung der Dortmunder Nordstadt zum Ding der Unmöglichkeit machen.

Immerhin: Haben die vier Kommissare die wichtige Tatzeugin Jelena Zvetkova (Simona Theoharova), die während des Mordes unter dem Schreibtisch des Opfers einer pikanten Beschäftigung nachging, erst einmal ausfindig gemacht, kommt zumindest ein bisschen Betrieb in die Geschichte, die bis dato recht spannungsarm vor sich hin plätschert. Spätestens nach der ersten Vernehmung ist aber offensichtlich, wo der Hase in Mein Revier langläuft.

Für echte Überraschungsmomente sorgt einzig Faber, dessen markante Sprüche ("Ja leck mich inne Täsch!") und kuriose Eskapaden allein schon das Einschalten wert sind: Wenngleich nicht jeder der One-Liner über 20 Jahre alten Balsamico-Essig oder die dubiosen Geschäfte des Unterweltkönigs Tarim Abakay (Adrian Can, Wem Ehre gebührt) zündet und auch die anonyme Post, die der Kommissar in seiner Schreibtischschublade findet, angesichts ihrer wichtigen Botschaft vielleicht in einem der nächsten Dortmunder Tatorte besser aufgehoben wäre, kristallisiert sich für den Tatort aus Westfalen doch eines heraus: Vielleicht wäre es geschickter gewesen, den einsamen Wolf zunächst allein auf Verbrecherjagd zu schicken – oder nur gemeinsam mit Bönisch, die ihm als Einzige Paroli zu bieten vermag.

Bewertung: 4/10

Ein neues Leben

Folge: 848 | 28. Oktober 2012 | Sender: BR | Regie: Elmar Fischer
Bild: BR/Bernd Schuller
So war der Tatort:

Ein bisschen wie DSDS, Popstars und die anderen, unzähligen Castingshow-Ableger.

Am Anfang steht in Ein neues Leben das große Casting in einem schmucken Münchener Hotel: Während die Jury, bestehend aus der forschen Isabella (herrlich fies: Nina Proll, Passion) und der sensibleren Sandra (zumindest hübsch anzusehen: Mina Tander, Blutschrift) sitzt, steht der Kandidat, der von einem neuen Leben träumt, stocksteif im Raum und muss sich neben löchernden Fragen auch noch abwertende Kommentare in Bezug auf sein Einkommen und seinen Lebenslauf gefallen lassen.

Wer sein Handy nach dem erfolgreichen Vorsprechen bei den Chefinnen der Drückerkolonne, die sich angeblich mit Spendengeldern gegen das Abschlachten von Robben stark macht, nicht abgibt, kann sich den Recall gleich abschminken. Lässt sich der Kandidat – in diesem Fall der undercover ermittlende Hauptkommissar Ivo Batic (Miroslav Nemec) – aber auf das Spiel ein, wird er postwendend in die große Gemeinschaftsvilla der Drückerkolonne verfrachtet. Ganz wie bei DSDS oder Big Brother eben - nur, dass statt festinstallierten Kameras argwöhnische Kollegen für die Überwachung sorgen, das Preisgeld deutlich niedriger angesetzt ist und im harten Drückergeschäft keine Zeit für falsche Tränen bleibt.

Undercover-Einsätze, mit denen in den letzten Jahren vor allem der Hamburger Kollege Cenk Batu (Mehmet Kurtulus) für Furore in der zu diesem Zeitpunkt in Sachen Drehbuchvielfalt doch recht überschaubaren Tatort-Landschaft sorgte, sind für Batic übrigens nichts Neues: 2007 schlich sich der Münchener Kommissar zum Beispiel in der starken Folge Der Finger als Küchenhilfe in einem Gourmetrestaurant ein, um dort den gestressten Köchen auf den Zahn zu fühlen.

Mit Der Finger oder Batu-Meilensteinen wie Der Weg ins Paradies oder Auf der Sonnenseite kann Ein neues Leben leider selten mithalten: Regisseur Elmar Fischer, der zuletzt die ersten beiden Fälle der Stuttgarter Kollegen Lannert und Bootz (Hart an der Grenze und In eigener Sache) inszenierte, gelingt es kaum, beim Treiben in der Villa und den Streifzügen ihrer Bewohner für echte Spannung und Überraschungen zu sorgen.

Zudem bremst das Drehbuch aus der Feder von Fred Breinersdorfer (Quartett in Leipzig) und Léonie-Claire Breinersdorfer (Aus der Traum) die Batic-Schnüffeleien immer wieder unnötig aus: Kollege Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) muss sich auf dem Präsidium mit Fechner (Kabarettist Maxi Schafroth) herumschlagen, dem furchtbar anstrengenden Neffen seines Vorgesetzten. Der eifert ihm in Sachen lockiger Haarpracht zwar eindrucksvoll nach, erweist sich dank seiner Redseligkeit ansonsten aber als wenig amüsante Nervensäge, die im Verlauf der neunzig Tatort-Minuten für keinen einzigen Lacher sorgt.

Als interessantester Handlungsstrang erweist sich vielmehr die problematische Beziehung zwischen der dominanten Isabella und ihrer Partnerin Sandra, die zwar mit ihr das Bett teilt, zugleich aber regelmäßige Quickies mit Drücker Arman (Navid Akhavan) einschiebt. Das rettet Ein neues Leben immerhin noch ins Mittelmaß, denn ansonsten verlässt der 848. Tatort, der nie die Klasse vieler Münchner Folgen der letzten Jahre erreicht, die ausgetretenen Genrepfade bis zum blutigen Showdown im Wald nur selten.

Bewertung: 5/10

Tote Erde

Folge: 847 | 21. Oktober 2012 | Sender: SWR | Regie: Thomas Freundner
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Perfekt getimt.

Die ARD strahlt Tote Erde, den elften gemeinsamen Einsatz der Stuttgarter Hauptkommissare Thorsten Lannert (Richy Müller) und Sebastian Bootz (Felix Klare) nämlich nicht an irgendeinem Sonntag aus, sondern am 21. Oktober 2012, am Abend der Oberbürgermeister-Wahlen in Stuttgart.

Da Baden-Württemberg mit Winfried Kretschmann seit einigen Monaten nicht nur den ersten grünen Ministerpräsidenten in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern die baden-württembergische Landeshauptstadt mit Fritz Kuhn kurz darauf auch einen neuen grünen Stadtvater hat, passt die umweltthemenlastige Geschichte, die der vierzehnfache Tatort-Regisseur Thomas Freundner (Väter) gemeinsam mit Debütant Wolf Jakoby geschrieben hat, wie die Faust aufs Auge zur Heimat der engagierten Wutbürger und Parkschützer.

Überzeugend ist der Krimi deswegen noch lange nicht: Freundner und Jakoby siedeln ihr klassisches Whodunit.-Konstrukt im Milieu studentischer Umweltaktivisten an, die auf den selten dämlichen Namen "Eco-Pirates" hören und politisch irgendwo zwischen Piratenpartei, Anonymous und der 68er-Bewegung anzusiedeln sind.

Dabei bedienen nicht nur Studentin Melli (Paula Kalenberg, Bermuda) und ihr gesundheitlich angeschlagener Aktivistenfreund Timo (Philipp Quest) so ziemlich jedes Klischee: Vor allem die nervtötende Wahrsagerin Saraswati (Katharina Heyer, Brandmal), der eine Schlüsselrolle im 847. Tatort zukommt, fällt als Figur erschreckend eindimensional aus – Handlesen inklusive.

Lannert und Bootz müssen bei ihren Ermittlungen zum ersten Mal auf die Unterstützung der gänzlich unschwäbischen Staatsanwältin Emilia Álvarez (Carolina Vera, kurz vor den Dreharbeiten erkrankt) verzichten: Die gebürtige Stuttgarterin Natalia Wörner (Martinsfeuer), zuletzt unter anderem in der schwäbischen Klamotte Die Kirche bleibt im Dorf im Kino zu sehen, tut als Staatsanwältin Henrike Habermas genau das, was zu befürchten ist: Sie schwäbelt sich bemüht durch sämtliche Dialoge und wackelt schon in den Anfangsminuten des Krimis mit ihrem blanken Busen, den das TV-Publikum kurz zuvor bereits in der Sat.1-Verfilmung Die Säulen der Erde bewundern durfte, durchs Bild.

Doch ob Quickie im Hotel, Karaoke-Abend oder überraschender Heitratsantrag: Keine der kitschigen Techtelmechtel-Szenen mit dem schmierigen Unternehmer Johannes Riether (der spätere Berliner Tatort-Kommissar Mark Waschke, Familienbande) bringt die Handlung auch nur einen Deut voran. Viel einfacher wäre es gewesen, die Liebesbeziehung zwischen Habermas und Riether zu streichen – dann wäre auch etwas mehr Zeit für das Privatleben von Lannert und Bootz geblieben, in das diesmal Bewegung kommt.

So versandet Tote Erde früh als klischeebeladener, selten spannender Öko-Krimi, der zwar viel schwäbisches Lokalkolorit mitbringt, inhaltlich aber durchfällt und bis heute zu den schwächsten Fällen mit Lannert und Bootz zählt.

Bewertung: 3/10

Borowski und der freie Fall

Folge: 846 | 14. Oktober 2012 | Sender: NDR | Regie: Eoin Moore
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

In der Realität verankert.

Denn im Jahr 1987 ging das Bild des tot in einer Genfer Hotelbadewanne aufgefundenen schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel um die Welt: Mord oder Selbstmord? Seit mittlerweile 25 Jahren ranken sich wilde Theorien um den Schlusspunkt der Waterkantgate-Affäre – von Suizid und Sterbehilfe bis hin zu Stasi-Verwicklungen, BND-, CIA- und Mossad-Auftragsmord ist so gut wie alles dabei.

Nun wagt Regisseur und Drehbuchautor Eoin Moore mit Borowski und der freie Fall ein bemerkenswertes Experiment: Er verschränkt seinen Kieler Tatort mit dem zeitgeschichtlichen Kriminalfall, bezieht dabei sogar Stellung und stiehlt sich erst auf der Zielgeraden ein wenig aus der (Barschel-)Affäre. Ein Videotape bringt neues Leben in die eigentlich zu den Akten gelegten Fall, dem selbst der Fund einer DNA-Spur vor wenigen Monaten kein neues Leben einzuhauchen vermochte.

Wer von dem umstrittenen Ex-Politiker ("Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!", auch Borowskis letzte Worte im Film) und seinem vieldiskutierten Ableben noch nie gehört hat, wird dank des öffentlich-rechtlichen Bildungsauftrags weich aufgefangen: Moore, der nach der Stuttgarter Episode Altlasten zum zweiten Mal einen Tatort inszeniert, zitiert Nachrichtenbeiträge und schreibt Hauptkommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) und Kommissarsanwärterin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) Zeilen ins Skript, die das historisch weniger bewanderte Publikum mit dem nötigen Grundwissen versorgen.

Der markige Dialogwitz, der das Verhältnis der beiden seit jeher kennzeichnet, kommt dabei dennoch nicht zu kurz.


BOROWSKI:
Sie sind so eine, die mit 35 Schladitz' Stelle haben will, oder?

BRANDT:
Ihre würde mir auch schon reichen.


Auch sonst darf erfreulich oft gelacht werden: So fuchtelt Borowski, der nach dem denkwürdigen Abgang seines rostigen Passats nun einen roten Volvo fährt, wie ein talentfreier Aushilfsmagier mit der Hand über Brandts iPad, in der vergeblichen Hoffnung, dass sich auf dem Tablet etwas regt.

Auch die aus der Not geborene Männer-WG mit seinem Vorgesetzten Roland Schladitz (Thomas Kügel) generiert einige Lacher, wenngleich die Szenen nicht ganz so köstlich ausfallen wie im herausragenden Brandt-Erstling Borowski und die Frau am Fenster.

Schwächeln tut Borowski und der freie Fall ein wenig im Nebenhandlungsstrang um das Outing des ambitionierten Politikers Karl Martin von Treunau (Thomas Heinze, Keine Polizei): Zwar fällt der Medienterror deutlich authentischer aus als im ähnlich gelagerten Berliner Tatort Eine ehrliche Haut, doch wird am Ende ein bisschen zuviel Trara um einen homosexuellen Abgeordneten gemacht, der zu Zeiten schwuler deutscher Außenminister und Berliner Bürgermeister in der Realität längst nichts Besonderes mehr ist.

Der entscheidende Schönheitsfehler, der eine höhere Wertung des ansonsten erstklassig und spannend konstruierten Krimis verhindert, ist aber ein altbekanntes Tatort-Problem: Einmal mehr ist der/die prominenteste/r Nebendarsteller/in der/die Mörder/in – und das macht den 846. Tatort trotz aller Experimentierfreude im Endeffekt doch ziemlich vorhersehbar.

Bewertung: 8/10

Nachtkrapp

Folge: 845 | 7. Oktober 2012 | Sender: SWR | Regie: Patrick Winczewski
Bild: SWR/Peter Hollenbach
So war der Tatort:

Gar nicht mal so gruselig, wie es der Trailer zu Nachtkrapp, dem 10-jährigen Konstanzer Tatort-Jubiläum nach dem Erstling Schlaraffenland, hatte erhoffen lassen.

Dabei ist mit der Ausgangslage, bei der ein finster im Fenster erscheinender Kinderschreck – der Nachtkrapp – nachts in ein Schullandheim eindringt und einen kleinen Jungen bestialisch ermordet, eigentlich alles wie gemalt für einen packenden, düsteren und stimmungsvollen Tatort, bei dem Regisseur Patrick Winczewski (Tod auf dem Rhein) mit einer gekonnten Inszenierung die kindlichen Urängste seines Publikums wecken könnte.

Auf eben jene zielt er zweifellos ab – scheitert dabei aber recht kläglich. Nachtkrapp ist zwar (es handelt sich schließlich um einen Bodensee-Tatort) fantastisch fotografiert und spielt vor herbstlichen See- und Alpenpanoramen, aber leider alles andere als spannend.

Nach dem passablen Auftakt im Schullandheim kämpft sich Drehbuchautorin und Tatort-Debütantin Melody Kreiss mühsam durch einen müden Rundumschlag gegen die katholische Kirche, heiratswillige Asiatinnen (Young-Shin Kim, Der Traum von der Au) und das Kompetenzgerangel zwischen Hauptkommissarin Klara Blum (Eva Mattes), Kai Perlmann (Sebastian Bezzel) und Matteo Lüthi (Roland Koch), der zuletzt für den Schweizer Nachrichtendienst tätig war und nun für die Abteilung Leib und Leben der Thurgauer Kantonspolizei im Einsatz ist.


PERLMANN:
So 'ne Art James Bond für Arme.


Natürlich ist der inoffizielle Nachfolger von Reto Flückiger (Stefan Gubser), der sich vom Gastkommissar in Bodensee-Tatorten wie Der Polizistinnenmörder zum neuen Schweizer Tatort-Kommissar in Luzern gemausert hat, kein Teamplayer – alles andere wäre ja auch neu. Kreiss scheint um die schreckliche Gewöhnlichkeit ihrer Figurenkonstellation zu wissen und verschwendet daher auch kaum mehr als wenige Drehbuchminuten darauf, Lüthi und die Kollegen aus Konstanz giften und rangeln zu lassen.

Stattdessen eröffnet sie mit der Entführung von Klara Blum, die in bester Odenthal-Tradition künstliche Spannung schüren soll, einen zwar angemessen ausgearbeiteten, für die Suche nach dem geheimnisvollen Nachtkrapp aber leider völlig überflüssigen Nebenkriegsschauplatz, der Perlmann, Lüthi und – sie ist zurück – Annika "Beckchen" Beck (Justine Hauer) bei der Suche ihrer Kollegin ein wenig zusammenschweißt.

Retten tut den 845. Tatort letztlich eine glänzende Leistung der hollywooderprobten Eva Mattes, deren gebeutelte Hauptkommissarin ungewohnt lautstark auftritt, schreit, in Tränen ausbricht und in den Gesprächen mit ihrem pädophilen Entführer Holger Nussbaum (Hansa Czypionka, Inflagranti) zu Hochform aufläuft.

Dass Nussbaum nicht der Täter ist, offenbart sich leider schon lange vor dem Kidnapping – dann nämlich bleibt die Kamera von Ralf Nowak einen fatalen Moment zu lang auf dem Gesicht des wahren Täters.

Bewertung: 4/10

Alter Ego

Folge: 844 | 23. September 2012 | Sender: WDR | Regie: Thomas Jauch
Bild: WDR/Willi Weber
So war der Tatort:

Vierköpfig.

Denn zum ersten Mal in seiner 42-jährigen Geschichte schickt der Tatort gleich vier Kommissare in derselben Stadt ins Rennen: zwei männliche und zwei weibliche, wie es sich im Sinne der Gleichberechtigung für einen öffentlich-rechtlichen TV-Sender gehört.

In Alter Ego gehen der Hauptkommissar und unumstrittene Teamchef Peter Faber (Jörg Hartmann, Ein ganz normaler Fall), Hauptkommissarin Martina Bönisch (Anna Schudt, Familienbande), Oberkommissar Daniel Kossik (Stefan Konarske, Im Abseits) und Oberkommissarin Nora Dalay (Aylin Tezel, Wem Ehre gebührt) auf Mördersuche im Ruhrpott, jener deutschen Arbeiterregion also, in der sich Horst Schimanski (Götz George) als Duisburger Ermittler einst unsterblich machte – und in der ein Klischee-Taubenzüchter natürlich nicht fehlen darf.

Bis zur Unsterblichkeit, an der in der neuen Tatort-Stadt Dortmund im Jahr 2012 auch der zweifache Meistermacher Jürgen Klopp arbeitet, ist es ein weiter Weg – doch Peter Faber bringt all jene Ecken und Kanten mit, mit denen Schimanski in den 80er und 90er Jahren den angestaubten Sonntagskrimi neu belebte. Der Unterschied: Heute sind charismatische Eigenbrötler und mürrische Protagonisten, die keinen Wert auf die Sympathie von Kollegen und Mitmenschen legen, ein alter Hut.

Im Tatort-Kosmos ermitteln bereits Muffelköppe wie Klaus Borowski (Axel Milberg) oder Frank Steier (Joachim Król), und im US-Fernsehen gibt es mit dem Quotengaranten Dr. House gar einen Serienhelden, der verdächtig ähnlich tickt. Faber wirkt bei seinem Debüt noch wie sein wenig einfallsreiches, deutsches Krimi-Pendant: ein hochqualifizierter Fachmann, aber alles andere als ein pflegeleichter Zeitgenosse, der Pillen einschmeißt, gedankenverloren auf Schuldächern ausharrt und sich seinen neuen Kollegen am Leichenfundort nicht einmal vorstellt.


FABER:
Ich hab mir Ihre Personalakten angeguckt, Sie haben mich gegoogelt. Reicht doch.


Auch der ruhige Score und der auffällige Einsatz von blauen Farbfiltern verstärkt den Eindruck, dass der WDR sich hier dazu entschlossen hat, besser gut Dr. House zu kopieren, statt schlecht etwas Neues zu machen. Innovationspreise gewinnt das eingespielte Gespann um Regisseur Thomas Jauch und Drehbuchautor Jürgen Werner, die zuletzt gemeinsam die Köln/Leipzig-Doppelfolgen Ihr Kinderlein kommet und Kinderland realisierten, damit (noch) nicht.

Gut, dass es da noch drei weitere Kommissare gibt, deren Beziehung untereinander alles andere als klassisch ausfällt: Gleich in der ersten, von Jauch clever parallel montierten Sequenz des 844. Tatorts haben BVB-Fan Kossik ("Das kann doch nicht sein, dass dieses Sackgesicht da unser neuer Chef ist!"), der statt zum Lokalderby ins Schwulenlokal geschickt wird, und Dalay, mit 28 Jahren die jüngste Kommissarin aller Zeiten, leidenschaftlichen Sex. Ein mutiger Einstieg, der Konfliktpotenzial für die Zukunft des Dortmunder Krimis birgt.

Leider ließen sich die übrigen Dialoge der beiden Jungermittler, die man sich genauso gut in der Ex-RTL-Serie SK Babies hätte vorstellen können, problemlos in der nächsten GZSZ-Folge verwursten, und so ist es am Ende mit der undurchsichtigen Bönisch die unspektakulärste der vier Figuren, die gleich gesteigertes Interesse weckt. Für die Rahmenhandlung um drei Morde im Schwulenmilieu gilt das nur bedingt: Alter Ego ist ein typischer Erstling, bei dem der zu lösende Fall eindeutig hinter der Einführung der neuen Charaktere zurückstehen muss.

Für den neuen Tatort aus Dortmund wird das in den Jahren danach zum Erfolgsprinzip – bei der Gewichtung wird allerdings noch sehr gewinnbringend nachjustiert.

Bewertung: 6/10

Hochzeitsnacht

Folge: 843 | 16. September 2012 | Sender: Radio Bremen | Regie: Florian Baxmeyer

Bild: Radio Bremen/Jörg Landsberg
So war der Tatort:

G-g-g-ganz schön laut.

Beim 21. gemeinsamen Einsatz von Inga Lürsen (Sabine Postel) und Nils Stedefreund (Oliver Mommsen) wird nämlich weniger ermittelt und fieberhaft nach Tätern gefahndet, sondern vor allem zweierlei: gestottert und gebrüllt.

Bei einer Hochzeitsfeier auf dem Land gerät die Bremer Hauptkommissarin samt Hochzeitsgesellschaft unverhofft in die Gewalt von Geiselnehmern – genauer gesagt in die Hände von Wolf (Denis Moschitto, Romeo und Julia) und seinem durchgeknallten Partner Simon (Sascha Reimann). Reimann, Crew-Mitglied der Party-Rapper Deichkind (Leider geil) und besser bekannt unter seinem Ex-Pseudonym Ferris MC (bekannt geworden durch den Rap-Hit Reimemonster), erinnert mit seiner eindrucksvollen schwarzen Maske ein wenig an den mächtigen Bane, der Batman im jüngsten Kino-Kracher The Dark Knight Rises schmerzhafte Lektionen erteilte.

Und macht seine Sache überraschend gut: Stets auf der Grenze zum Over-Acting wandelnd, braucht sich der extrovertierte Musiker eigentlich nur selbst zu spielen. Gut gebrüllt, Ferris – aber leider schlecht gebrüllt, Drehbuch. Autor Jochen Greve, der unter anderem auch das Script zum sehenswerten Stedefreund-Debüt Eine unscheinbare Frau beisteuerte, liefert mit Hochzeitsnacht ein erschreckend schwaches Drehbuch ab, bei dem ein Logikloch das nächste jagt und der Zuschauer bis zum Abspann vergeblich auf überraschende Momente hofft.

An Handynetz-Ausfälle hat man sich als leidgeprüfter Tatort-Zuschauer ja längst gewöhnt, dennoch seien – stellvertretend für unzählige – drei Beispiele genannt, die es spätestens nach einer knappen Stunde unzumutbar machen, sich weiter ernsthaft mit der hanebüchenen Geschichte, die Florian Baxmeyer (Der illegale Tod) inszenieren muss, auseinanderzusetzen.
  1. Lürsen schickt Stedefreund, der sich einleitend davongestohlen hat, um in Boxer-Shorts ihren Hund wiedereinzufangen, eine Bluetooth-Nachricht. Von der Toilette aus, über eine Distanz von rund 100 Metern, durch dicke Mauern hindurch. Klingt nach James Bond – im 843. Tatort schon heute Realität.

  2. Geiselnehmer Simon fordert lautstark einen Fluchtwagen, egal was für einen, "Hauptsache er fährt". Dass vor der Gaststätte zahlreiche vollgetankte Autos der gefangenen Geiseln praktisch abfahrbereit warten, übersieht er im Eifer des Gefechts.

  3. Die gut drei Dutzend Geiseln werden von zwei Geiselnehmern in Schach gehalten, die vorübergehend minutenlang den Raum verlassen. Absprachen? Fluchtversuche? Mitnichten. Brav wird gewartet, bis Wolf und Simon wiederkommen, wild herumbrüllen und Hochzeitstorten durch die Gegend werfen.
Derweil vegetiert draußen Stedefreund mit einer Handvoll Kollegen, die binnen Minuten eine mobile Einsatzzentrale in einem Zelt aufgebaut haben, vor sich hin und wartet seelenruhig auf Verstärkung.

Wie gut, dass die Zeit mit dem Verhör einer cleveren Zeugin ("So sieht doch kein Mörder aus."), die sich beim Ausführen ihres Hundes in die Einsatzzentrale verirrt, überbrückt werden kann.

Bewertung: 2/10

Borowski und der stille Gast

Folge: 842 | 9. September 2012 | Sender: NDR | Regie: Christian Alvart
Bild: NDR/Marion von der Mehden
So war der Tatort:

Heimlich, still und leise – aber manchmal auch ziemlich laut.

Das erscheint angesichts des Krimititels Borowski und der stille Gast ein wenig paradox, doch die Kieler Hauptkommissarin Sarah Brandt (Sibel Kekilli) zeigt sich bei ihrem dritten Einsatz alles andere als zurückhaltend: Erst latscht ihr Kollege Klaus Borowski (Axel Milberg) bei der einleitenden Tatort-Besichtigung unaufmerksam durch einen 3D-Scan, kurz darauf bekommt sie ausgerechnet auf dem Flur des Präsidiums einen epileptischen Anfall. Und bettelt ihren Vorgesetzten anschließend vehement an, das frisch gelüftete Geheimnis um ihre Krankheit, das dem Zuschauer bei ihren ersten beiden Einsätzen in Borowski und die Frau am Fenster und Borowski und der coole Hund Rätsel aufgab, für sich zu behalten.

Er schweigt natürlich wie ein Grab, doch ansonsten steht der bis dato eher als besonnen bekannte Borowski seiner aufbrausenden Kollegin in Sachen Lautstärke diesmal in nichts nach. Erneut bietet er nämlich Kriminalrat Roland Schladitz (Thomas Kügel) Unterschlupf, der Borowskis Wohnung bereits im Vorgänger mit seinem spontanen Einzug zur Männer-WG umfunktionierte – und verliert glatt die Fassung, als ihn sein kochbegeisterter Interimsmitbewohner auf seine auffallend schlechte Laune anspricht.

Es ist eine der stärksten, intensivsten Szenen des Films, obwohl sie mit dem fesselnden Kriminalfall nur indirekt zu tun hat – und sie birgt sogar einen wunderbaren Verweis auf Psychologin Frieda Jung (Maren Eggert), die sich zweieinhalb Jahre zuvor in Tango für Borowski für lange Zeit aus dem Kieler Tatort verabschiedet.


BOROWSKI:
Ich hasse das! Ich wohne alleine, du kommst her, du willst immer kochen, du willst immer essen! Und deine Elke und der ganze Scheiß! Ich hab' seit Jahren mit meiner Tochter nicht gesprochen! Frau Jung ist verschollen, Frau Brandt ist krank, ich sehe jeden Tag Leichen, und Zerhacktes, und Hirn aufm Teppich!


Drehbuchautor Sascha Arango, der bereits bei seinen herausragenden Drehbüchern zu Der kalte Tod und Borowski und die Frau am Fenster auf das Whodunit-Prinzip verzichtete, stellt auch diesmal nicht die Täterfrage: Der Psychopath Kai Korthals (furchteinflößend: Lars Eidinger, Hauch des Todes) nimmt als Paketbote Kontakt zu seinen Opfern auf und nistet sich als titelgebender stiller Gast vor den Augen des Zuschauers in fremden Wohnungen ein.

Doch damit nicht genug: Korthals wühlt tief in der Privatsphäre seiner Opfer, liest ihre Briefe, schnüffelt an ihren Schuhen, wühlt in Tampondosen und benutzt sogar ihre Zahnbürsten – und immer, wenn es für ihn brenzlig wird, verschwindet er gespenstisch in den dunklen Ecken der Wohnungen. Spätestens, wenn der Postmann zweimal klingelt und dem Sohn der heroinsüchtigen Roswitha Kranz (Peri Baumeister) einen Lutscher schenkt, ahnt das Publikum Böses.

Arango und Regisseur Christian Alvart, der bereits bei Borowski und der coole Hund Regie führte, konfrontieren den Zuschauer gezielt mit seinen Urängsten und arrangieren ein zutiefst beunruhigendes Szenario, in dem die eigenen vier Wände keine Sicherheit mehr bieten. Eine schreckliche Vorstellung, und diese Erfahrung macht auch Brandt: Die aufbrausende Epileptikerin ("Fuck die Fakten!") bekommt im Rahmen einer hochspannenden Hommage an Alfred Hitchcocks Suspense-Meisterwerk Psycho ungebetenen Besuch in ihrem Badezimmer.

Es ist aber auch das geschickte Spiel mit den Konventionen der Krimireihe, die den 842. Tatort so großartig machen: Statt alles auf Brandts Rettung in letzter Sekunde zuzuspitzen, bringt Korthals ihr Tabletten ans Bett – ein nicht minder elektrisierender Moment, der sich trotz des glimpflichen Ausgangs viel spannender gestaltet als beispielsweise die vielen Rettungsaktionen von Tatort-Kollegin Lena Odenthal. Dieser Krimi ist schlichtweg nie auszurechnen und dabei beklemmend und erschütternd bis ins Mark. Die letzte Trumpfkarte hebt Arango sich für die Schlussminute auf.

Dass der Krimi mit kleineren Logiklöchern zu kämpfen hat, ist angesichts des immens hohen Unterhaltungswerts zu verschmerzen: Die Gewissheit der Kommissare, dass sie es mit einem gewieften und penibelst auf seine Tarnung bedachten Einbrecher zu tun haben, reift recht schnell, und warum das Handy des Flüchtenden nicht einfach geortet wird, leuchtet auch nicht recht ein.

Borowski und der stille Gast ist dennoch ein herausragender und hochspannender Tatort, ein Meilenstein der Krimireihe, dessen brillantes Drehbuch nahtlos an die Klasse des Vorvorgängers Borowski und die Frau am Fenster anknüpft – und der schon bald zum Kult-Krimi mit Kult-Killer wird, der in Borowski und die Rückkehr des stillen Gastes sein Comeback gibt.

Bewertung: 10/10

Fette Hunde

Folge: 841 | 2. September 2012 | Sender: WDR | Regie: Andreas Kleinert
Bild: WDR/Erik Lee Steingroever
So war der Tatort:

Altbekannt.

Gut eineinhalb Jahre nach dem sehenswerten Tatort Heimatfront, in dem die später geschassten Saarbrücker Kollegen Kappl und Deininger traumatisierte Hindukusch-Heimkehrer zum Verhör baten, thematisiert Fette Hunde nämlich erneut die Rückkehr deutscher Soldaten aus Afghanistan – ein fast schon prädestiniertes Thema für den für seine Sozialkritik bekannten Kölner Tatort.

Drehbuchautor André Georgi (Der glückliche Tod) setzt bei seiner Geschichte aber einen anderen Schwerpunkt, macht den Drogenschmuggel aus Nahost zum Kern der Handlung und reißt die traumatischen Erfahrungen der Soldaten nur grob an. Viel mehr, als dass Krieg kein Zuckerschlecken ist, Verstümmelungen zur Folge haben kann und Fernbeziehungen eine ernste Belastungsprobe für Pärchen ist, hat er zum Kampfeinsatz in Afghanistan aber leider nicht zu sagen – was den Vorteil birgt, dass so zumindest die Rahmenhandlung um den getöteten Heroinschmuggler, der sage und schreibe sechzig drogengefüllte Kondome in seinem Darm durch den Zoll geschmuggelt hat, angemessen ausgearbeitet werden kann.

Dass die Kölner Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) erst nach einer halben Stunde am Leichenfundort aufkreuzen, hat zwei Gründe: Zum einen montiert Regisseur Andreas Kleinert, der bereits sechs Polizeiruf 110-Folgen, aber noch keinen Tatort inszeniert hat, die Vorgeschichte des Schmugglers und seiner weiblichen Begleitung Amina Rahimi (Maryam Zaree, Der illegale Tod) parallel zum Rest des Geschehens – zum anderen gibt es aber auch eine ausufernde Heimkehrerparty, nach der die beiden Ermittler zum Erstaunen ihrer Assistentin Franziska Lüttgenjohann (Tessa Mittelstaedt) in einer köstlichen Sequenz auf derselben Matratze aufwachen.


LÜTTGENJOHANN:
Ihr habt zu zweit in einem Bett geschlafen? Das ist aber neu in eurer Beziehung, oder?

SCHENK:
Ich weiß nix mehr. Ich trink auch nix mehr.


Altbekannt ist der 841. Tatort aber auch, weil die beiden verkaterten Ermittler mit Ex-Sekretärin Lissy (Anna Loos) eine alte Bekannte auf dem Polizeipräsidium begrüßen dürfen, die dort natürlich prompt mit ihrer Nachfolgerin aneinander gerät. Schon nach wenigen Sätzen ist der Zickenkrieg aber wieder beendet und es herrscht – anders als in Afghanistan – wieder brav Waffenstillstand.

Schade: Ein bisschen mehr Zündstoff hätte Fette Hunde gut zu Gesicht gestanden, schlägt die Spannungskurve ansonsten doch höchstens bei Rahimis illegaler Odyssee durch die Kölner Innenstadt mal ein wenig nach oben aus.

Ansonsten haben die Filmemacher beim 55. Einsatz von Ballauf und Schenk wenig Neues zu erzählen und setzen das Kölner Tatort-Jahr 2012 gewissermaßen konsequent fort: Graues Mittelmaß ist angesagt. Verkaterte Ermittler sind beim Blick auf die Tatort-Gesamtreihe nämlich ebenfalls nichts Neues mehr: 2006 erwischte es unter anderem den Ludwigshafener Kollegen Mario Kopper (Andreas Hoppe), der seine Augenringe in Der Lippenstiftmörder nach einer durchzechten Nacht konsequent hinter einer schwarzen Sonnenbrille verbarg.

War auch ganz witzig.

Bewertung: 5/10

Hanglage mit Aussicht

Folge: 840 | 26. August 2012 | Sender: SWR/SRF | Regie: Sabine Boss
Bild: SWR/SRF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Idyllisch.

Große Teile des dritten Einsatzes von Hauptkommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) und seiner neuen Kollegin Liz Ritschard (Delia Mayer), die zum zweiten Mal an der Seite des einsamen Hobbyseglers ermitteln darf, spielen nämlich vor traumhaften Postkartenkulissen – Schweizer Seelandschaften und malerischen Kamerafahrten über bewaldete Berghänge sei Dank.

Dass der Luzerner Ermittler im 840. Tatort auch bei strahlendem Sonnenschein und 28 Grad Außentemperatur konsequent auf seine schwarze Übergangsjacke als Berufskleidung setzt, ist dabei eigentlich nur mit seinem unterkühlten Naturell zu erklären.

Emotional wird es in Hanglage mit Aussicht nämlich nur in Ausnahmefällen – zum Beispiel dann, wenn man die tatverdächtige Claudia Arnold (Sarah Sophia Meyer) auf ihr intimes Verhältnis zum Mordopfer anspricht oder wenn sich Flückiger mal wieder mit dem kompletten Kollegenkreis samt Kripo-Chef Ernst Schmidinger (Andrea Zogg), Regierungsrat Eugen Mattmann (Jean-Pierre Cornu) und seiner Partnerin Ritschard anlegt und im Scheuklappenmodus zum Anwalt der sozial Schwächeren aufschwingt.


RITSCHARD:
Brauchst du eigentlich Feinde, weil du keine Freunde hast?


Ritschards treffende Beobachtung bringt das Dilemma des Luzerner Tatorts, den die ARD erneut in einer nervtötenden und stellenweise nicht einmal lippensynchronen Synchronfassung ausstrahlt, auf den Punkt: Seine Figuren funktionieren auch beim dritten Anlauf nicht, weil das Drehbuch, diesmal aus der Feder von Tatort-Frischling Felix Benesch, ihnen keinerlei Privatleben einräumt und sie ausschließlich über ihr Ermittlungsverhalten definiert.

Über Flückiger erfährt der Zuschauer überhaupt nichts Neues und Ritschard bleibt als Kommissarin auch bei ihrem zweiten Einsatz völlig austauschbar. Höhenangst hat sie offenbar, die Frau an Flückigers Seite, aber hat die nicht gefühlt jeder Dritte?

Die gemeinsame Seilbahnfahrt zur Analyse des Tathergangs ist fast noch das Spannendste an Hanglage mit Aussicht, in dem sich überforderte Nebendarsteller und Tatverdächtige die Klinke in die Hand geben, der Mörder früh offensichtlich ist und jegliches Aufkommen von Spannung im Keim erstickt wird. Selbst als der personifizierte Schweizer Hinterwäldler Rolf Arnold (Peter Freiburghaus, Kameraden), der penetrant mit einer riesigen Mistgabel durch die Gegend wedelt, Ritschard mit einer geladenen Waffe bedroht, zuckt der Kommissar nicht einmal mit der Wimper.

 So bleibt der diesmal von Regie-Debütantin Sabine Boss inszenierte Luzerner Tatort nach dem indiskutablen Wunschdenken und dem müden Skalpell weiterhin das Sorgenkind der Krimireihe und verdient sich nur aufgrund seiner tollen Landschaftsaufnahmen den sehr schmeichelhaften zweiten Punkt auf der Bewertungsskala.

Bewertung: 2/10

Skalpell

Folge: 839 | 28. Mai 2012 | Sender: SRF | Regie: Tobias Ineichen
Bild: SWR/SRF/Daniel Winkler
So war der Tatort:

Lehrreich.

Denn Skalpell widmet sich wie erst kurz zuvor der Münster-Tatort Zwischen den Ohren dem Thema Intersexualität – jenem Phänomen also, das im Volksmund gemeinhin unter dem Begriff "Zwitter" bekannt ist.

Im Gegensatz zum Fall aus Westfalen, in dem die Problematik nur als Aufhänger für die üblichen Gagsalven und Krimimomente benutzt wird, breitet Drehbuchautor Urs Bühler diese aber in aller Ausführlichkeit aus – inbesondere im Mittelteil des zweiten Einsatzes von Hauptkommissar Reto Flückiger (Stefan Gubser) dürfte sich so mancher Zuschauer wie in einem zweitklassigen Lehrfilm vorkommen.

Zugegeben: Dass sich aus Oberschenkelgewebe eine sogenannte "Neovagina", in der Gynäkologie auch unter dem Namen Kolpopoese bekannt, basteln lässt, dürfte dem Großteil des Publikums neu sein – wirklich besser machen solchen Detailinformation Skalpell aber vor allem als Krimi nicht.

Flückigers zweiter Einsatz spielt  zwar qualitativ eine ganze Liga höher als sein vollkommen missratenes Debüt Wunschdenken, ist aber noch immer weit davon entfernt, das Schweizer Fernsehen innerhalb des Tatort-Kosmos standesgemäß zu vertreten.

Immerhin: Die nervtötende Ami-Kollegin Abby Lanning (Sofia Milos) ist schon nach einer Folge wieder Geschichte – ab sofort ermittelt Liz Ritschard (Delia Mayer, 1999 bereits in einer Nebenrolle in Alp-Traum zu sehen) an der Seite des attraktiven Hobbyseglers.

Profil verleihen ihr die Schweizer Filmemacher freilich noch keines: Ritschard ist letztlich (noch) nicht mehr als eine von vielen Kolleg(inn)en im Team des Luzerner Kommissars, wird kaum charakterlich skizziert und stagniert als Stichwortgeberin und schmückendes Beiwerk.

Regisseur Tobias Ineichen, der zuletzt die Münchner Tatort-Folge Liebeswirren inszenierte, ist dabei noch der geringste Vorwurf zu machen: Für die störende Synchronisation, die wie schon in Wunschdenken jederzeit akustisch greifbar ist, kann er nichts, aus dem schwachen Drehbuch von Urs Bühler holt er noch das Beste heraus.

Mit dem ausgefallenen Tathergang sorgt der Autor zwar für ein spätes Aha-Erlebnis, doch in der letzten Sequenz fährt er den 839. Tatort schließlich vollends vor die Wand: Der abstruse, unfreiwillig amüsante Showdown demaskiert die Schweizer Polizeibeamten praktisch als unbeholfene, überforderte Amateure.

Da laden die bis an die Zähne bewaffneten Gesetzeshüter den isolierten, umzingelten Hauptverdächtigen doch glatt zu einer spontanen Geiselnahme ein, damit in den letzten Minuten zumindest noch mitgefiebert werden darf – besser gesagt: mitgefiebert werden soll.

Bewertung: 3/10