Preis des Lebens

Folge: 959 | 25. Oktober 2015 | Sender: SWR | Regie: Roland Suso Richter
Bild: SWR/Alexander Kluge
So war der Tatort:

Nervenaufreibend.

Und das nicht nur für den Zuschauer, sondern vor allem für Hauptkommissar Sebastian Bootz (Felix Klare): Zum ersten Mal erweist es sich im Stuttgarter Tatort als großer Vorteil für Drehbuch und Spannung, dass Bootz einer der wenigen Ermittler ist, die in der Krimireihe überhaupt eine Familie haben, oder besser gesagt: hatten.

Frau und Kinder verließen ihn 2013 in Spiel auf Zeit, doch darf der Single zumindest mal wieder Tochter Maja (Miriam Joy Jung, Debüt in Happy Birthday, Sarah) bei sich einquartieren. Das Vater-Tochter-Glück, das sich in Preis des Lebens beim Auftakt-Joggen ums Milaneo und über die Stuttgart 21-Baustelle offenbart, ist allerdings nicht von langer Dauer: Maja wird nach einer Übernachtungsparty bei Freunden entführt und treibt ihren besorgten Vater damit zur Verzweiflung. Waren die mal mehr, mal weniger harmonischen Familienszenen im Hause Bootz bis dato meist spannungstötende Störfeuer zugunsten der Charakterzeichnung, so bildet das gemeinsame Bangen mit Ex-Frau Julia (Maja Schöne) diesmal das emotionale Epizentrum der Geschichte.

Für die Entführung verantwortlich zeichnen Simone (Michaela Caspar, Schwarze Tiger, weiße Löwen) und Frank Wendt (Robert Hunger-Bühler, Letzte Tage): Sie trauern noch immer um ihre Tochter Mareike, die von fünfzehn Jahren brutal vergewaltigt und erdrosselt wurde. Mit dem frisch aus der Haft entlassenen Täter Jörg Albrecht (David Bredin) machen sie in den ersten Krimiminuten kurzen Prozess – und weil die Stuttgarter Kommissare dessen ehemaligen Komplizen Stefan Freund (Christian Kerepeszki, Wahre Liebe) in Schutzhaft nehmen, nutzen die Mendts Bootz' Tochter als Druckmittel dafür, Freund ausliefern zu lassen. Für Bootz und seinen Kollegen Thorsten Lannert (Richy Müller) eine absolute Ausnahmesituation.


BOOTZ:
Wenn ihr auch nur irgendetwas passiert, werden wir nicht mehr die Alten sein.

LANNERT:
Das sind wir jetzt schon nicht mehr.


Das Vertrauensverhältnis der Kommissare, die seit ihrem Debüt in Hart an der Grenze selten verschiedener Meinung waren, wird in diesem emotionalen Krimidrama nach einem Wortbruch von Lannert in seinen Grundfesten erschüttert. Einen Ermittler persönlich in den Fall zu involvieren, ist nicht gerade ein kreativer Einfall – doch was Drehbuchautor Holger-Karsten Schmidt (Tödliche Tarnung) und Regisseur Roland Suso Richter (Spiel auf Zeit) aus der relativ konventionellen Geschichte herausholen, ist über weite Strecken erstklassige TV-Unterhaltung.

Zu Recht gelten Tatort-Folgen, bei denen der Mörder von Beginn an feststeht, bei vielen Krimifans als die besseren (vgl. Der kalte Tod, Borowski und das Mädchen im Moor), und diese Theorie unterstützt auch Preis des Lebens wieder. Statt der gewohnten Whodunit-Konstruktion entspinnen die Filmemacher ein fiebriges Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die cleveren Entführer am längeren Hebel sitzen und Bootz von Minute zu Minute stärker auf den mentalen Abgrund zusteuert. Ein Versuch nach dem anderen, das abgetauchte Ehepaar dingfest zu machen, schlägt fehl: Weil die Mendts nichts zu verlieren haben, bleibt es bis zum Finale spannend.

Kleinere Logiklöcher und die Tatsache, dass sowohl Lannert als auch Staatsanwältin Emilia Alvarez (Carolina Vera) und Assistentin Nika Banovic (Mimi Fiedler) Bootz' wirre Anweisungen nach dem Anruf der Entführer und seine offensichtliche seelische Verwandlung merkwürdig spät registrieren, sind angesichts des hohen Unterhaltungswerts nicht tragisch. Ein bisschen schade ist aber der starke Fokus auf den eindimensionalen Frank Mendt, der sich zum alleinigen Gegenspieler der Kommissare mausert: Theaterschauspielerin Michaela Caspar hätte man mehr Kamerapräsenz gewünscht, schließlich deutet sie ihr großes Potenzial schon in der beklemmenden Auftaktsequenz an.

Der 959. Tatort ist dennoch ein sehr reizvolles Krimidrama, das trotz der abgegriffenen Ausgangslage und kleineren Schwächen in der B-Note bis in die Schlussminuten überzeugt.

Bewertung: 8/10

Kollaps

Folge: 958 | 18. Oktober 2015 | Sender: WDR | Regie: Dror Zahavi
Bild: WDR/Thomas Kost
So war der Tatort:

Déjà-vu-esk – und das gleich doppelt.

Denn gleich zwei Gesichter dürften dem Stammpublikum bei der TV-Premiere von Kollaps im Oktober 2015 bekannt vorkommen: Zum einen das von Werner Wölbern (Er wird töten), der eine Woche zuvor in Verbrannt den rassistischen Leiter einer Polizeiwache in Salzgitter mimte und diesmal als ausländerfeindlicher Modelleisenbahn-Fan zu sehen ist.

Zum anderen aber auch das von Adrian Can (Wem Ehre gebührt), dem die Dortmunder Ermittler Peter Faber (Jörg Hartmann), Martina Bönisch (Anna Schudt), Nora Dalay (Aylin Tezel) und Daniel Kossik (Stefan Konarske) nach 2012 bereits zum zweiten Mal begegnen: Wie einst in Mein Revier mimt Can den einflussreichen Unterweltkönig Tarim Abakay, der von muskelbepackten Bodyguards bewacht wird und Faber stets auf ein Gläschen Tee einlädt.

Für die horizontale Erzählweise, eines der Markenzeichen der Krimis aus dem Ruhrpott, ist Tabakay diesmal der Dreh- und Angelpunkt: Faber erhofft sich von ihm Hinweise auf die untergetauchten senegalesischen Dealer Jamal (Warsama Guled) und Niara Gomis (Victoire Laly) und setzt sich bei seinem Alleingang über alle Vorschriften hinweg. Anders als in so vielen anderen Tatort-Folgen bleibt das nicht folgenlos: Es kommt zum lautstarken Bruch zwischen Faber und Kossik, der im nächsten Dortmunder Tatort Hundstage wieder aufgegriffen wird.

Auch das Treiben der Dealer hat Folgen: Ihre versteckten Kokaintütchen auf einem Spielplatz in der Nordstadt kosten die kleine Emma (Sophie Schwierske) das Leben, weil sie die bunten Pillen im Sand für Bonbons hält. Und da ihre Mutter Claudia Siebert (Alexandra Finder, Todesspiel) zu spät hinsieht, sind die Rettungsversuche der Sanitäter Oliver Lahnstein (Axel Schreiber, Franziska) und Kai Lubitz (Stefan Haschke, Macht der Angst) vergeblich.

Die Tonalität des Films wird bereits bei diesem beklemmenden Auftakt deutlich: In Kollaps, der auf dem Krimifestival Tatort Eifel seine Vorpremiere feierte, zieht sich der Filmtitel wie ein roter Faden durchs Geschehen. Er spielt nicht nur auf den grausamen Tod des kleinen Mädchens, sondern auch auf das Seelenleben ihres geschockten Vaters Roland Siebert (Sönke Möhring, Bruder von Tatort-Kommissar Wotan Wilke Möhring) und das Privatleben von Bönisch an.

Letztere betäubt ihren Frust darüber, dass ihr Mann das alleinige Sorgerecht für die Kinder erwirkt hat, mit One-Night-Stands und zeigt sich so unausgeglichen wie nie. Anna Schudt gibt dies Gelegenheit, ihr schauspielerisches Können in die Waagschale zu werfen: Während sonst meist Kollege Jörg Hartmann als exzentrischer Borderline-Kommissar für die Eskapaden zuständig ist, bildet Faber diesmal den ruhenden, fast besorgten Gegenpol zur schlecht gelaunten und zunehmend aggressiven Kollegin.

Die Stadt Dortmund wird dabei wieder von ihrer tristesten Seite gezeigt: Drehbuchautor Jürgen Werner, der bis auf Schwerelos alle bisherigen Faber-Folgen konzipierte, lässt die Ermittler vor kalten Betonkulissen, in verwahrlosten Wohnungen und vor graffitiverschmierten Wänden ermitteln. Wie schon in Hydra oder Eine andere Welt durchsetzen die Filmemacher das Krimidrama mit viel Lokalkolorit und greifen dabei gesellschaftliche Reizthemen auf: Diesmal sind es die sozialen Probleme in der Nordstadt und die konkreten Auswirkungen der Flüchtlingsbewegung. Stellung beziehen sie allerdings nicht: Politische Patentlösungen sucht man ebenso vergebens wie polizeiliche Moralpredigten, wie sie so oft im Kölner Tatort zu beobachten sind.

Etwas enttäuschend fällt die Auflösung aus: Die Antwort auf die Frage, wer den Tod der kleinen Emma gerächt hat, dürfte für Krimi-Kenner spätestens nach einem Feierabendbier von Kossik und einem Verdächtigen Routine sein. Doch Stammautor Werner hat noch ein Ass in der Hinterhand: Er lässt dem Showdown auf dem Spielplatz eine heftige Schlusspointe folgen, die die Perspektivlosigkeit der Flüchtlinge brutal auf den Punkt bringt und ein zutiefst beunruhigendes Gefühl hinterlässt.

Heile Welt ist im Dortmunder Tatort nicht drin – dafür steht Kollaps exemplarisch.

Bewertung: 7/10

Verbrannt

Folge: 957 | 11. Oktober 2015 | Sender: NDR | Regie: Thomas Stuber
Bild: NDR/Alexander Fischerkoesen
So war der Tatort:

Brandaktuell – und das im wörtlichsten Sinne.

Zweieinhalb Jahre nachdem die Hauptkommissare Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) und Katharina Lorenz (Petra Schmidt-Schaller) bei ihrem starken Debüt Feuerteufel einen Brandstifter jagten, ermitteln sie diesmal gegen zündelnde Kollegen: In Salzgitter wird ein afrikanischer Asylbewerber, dem die Ermittler Kontakte zu Schleuserbanden unterstellen, nach einer Verfolgungsjagd per pedes über Nacht in Polizeigewahrsam genommen – und liegt am nächsten Morgen Verbrannt in seiner Zelle.

Mitten in Zeiten der europäischen Flüchtlingskrise entspinnen Regisseur Thomas Stuber und Drehbuchautor Stefan Kolditz (Das Muli) ein beklemmendes Szenario: Der Mann aus Mali wurde zu Unrecht inhaftiert und hinter Gittern auf grausamste Art und Weise ermordet. Die Vorlage für den 957. Tatort liegt zehn Jahre zurück: Kolditz arbeitet den realen Fall von Oury Jalloh aus Sierra Leone auf, der 2005 in einer Dessauer Gefängniszelle verbrannte. Zwar wurde nach jahrelangen Prozessen ein Polizist wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt, doch sind die genauen Todesumstände bis heute ungeklärt.

Genau hier setzen die Filmemacher an: Falke und Lorenz bekommen nach einer starken Einleitung, in der Falke dem aufmüpfigen Flüchtenden mehrfach ins Gesicht schlägt, einen reizvollen Whodunit serviert und stoßen bei ihren Nachforschungen auf dem Revier von Dienststellenleiter Werl (Werner Wölbern, Kollaps) auf eine Mauer des Schweigens. Einzig die labile Polizistin Maria Sombert (überzeugend: Annika Kuhl, Er wird töten) ist schnell als schwächelndes Glied in der Kollegen-Kette ausgemacht.

Aus Verbrannt, der vor der TV-Premiere auch in 160 deutschen Kinos zu sehen war, hätte ein bärenstarker Krimi werden können – wären da nicht die vorhersehbare Auflösung und das schwache Schlussdrittel, die den bis dato guten Gesamteindruck schmälern. Dass sich der Afrikaner, den die Beamten in seiner Zelle mit Handschellen fixiert haben, kaum selbst hat umbringen können, ist früh offensichtlich, und so dudelt bei einer Grillfeier unter Polizisten erst Black Magic Woman, dann Andreas Bouranis WM-Hit Auf uns ("Hier geht jeder für jeden durchs Feuer") im Hintergrund: Zwei doppeldeutige, bitterböse Details, die Krimi-Kennern auf Tätersuche kaum entgehen dürften.

Trickreiche Vertuschungsversuche des Mörders sucht man indes vergebens: Obwohl der Gesuchte nach einer auffallend kurzen Auftaktbefragung lange Zeit aus dem Blickfeld gerät, ist er schon nach einem kurzen Wortwechsel geständig. Es greifen die üblichen Tatort-Mechanismen, während der "institutionelle Rassismus", den Kabarettist Serdar Somuncu bei seinem bissigen Gastauftritt als Anwalt des Toten anführt, in einer etwas übertriebenen Referenz auf Siegfried-Mörder Hagen von Tronje aus der Nibelungen-Sage gipfelt: Hier wäre weniger mehr gewesen.

Ähnlich wie zuletzt die Schweizer Kollegen in Schutzlos hätten sich die Filmemacher intensiver der Perspektivlosigkeit von Flüchtlingen widmen können, verschwenden stattdessen aber wertvolle Zeit für eine halbherzige falsche Fährte um den verdächtigen Dr. Arnold (Peter Jordan, Häuserkampf) und breiten die Gefühlswelt der Kommissare aus, die sich bereits in Die Feigheit des Löwen näherkamen. Das wirkt stellenweise unbeholfen und gerät auf der Zielgeraden zu kitschig, geht aber zumindest nicht auf Kosten der Spannung. So wird der scheidenden Petra Schmidt-Schaller nach dem enttäuschenden Bunny-Tatort Frohe Ostern, Falke zumindest ein würdiger Abschied zuteil.

Gänzlich auf diesen verzichten muss Nebendarsteller Sebastian Schipper, der seinem Ärger über die zunehmend überflüssige Rolle als Kumpel-Kommissar Jan Katz Luft machte und prompt vor die Tür gesetzt wurde. Stattdessen gibt es in Verbrannt ein Wiedersehen mit Jungschauspieler Julius Feldmeier – der spielte bereits im Münchner Vorgäner Die letzte Wiesn eine Schlüsselrolle und feiert diesmal einen ganz ähnlichen Abgang.

Bewertung: 6/10

Hier geht jeder für jeden durchs Feuer: